Ausland08. Oktober 2021

»Das ist unser Hinterhof!«

Die EU wirbt auf ihrem »Westbalkan-Gipfel« mit Lippenbekenntnissen um die Nicht-EU-Mitglieder Südosteuropas. Dort gewinnen Rußland und China, der größte Impfstofflieferant, an Einfluß

von German Foreign Policy

Mit neuen Lippenbekenntnissen zu angeblichen Erweiterungsplänen sucht die EU die sechs Länder Südosteuropas, die ihr nicht angehören, gegen den Einfluß Rußlands, Chinas und der Türkei abzuschotten. Man unterstütze den »Erweiterungsprozeß«, also die Aufnahme Bosnien-Herzegowinas, Serbiens, Montenegros, Nordmazedoniens, Albaniens und des völkerrechtswidrig von Serbien abgespaltenen Kosovo in die EU, heißt es in einer Erklärung, die die Union am Mittwoch im slowenischen Brdo pri Kranju verabschiedete.

Die Aussage, die von Experten nicht ernstgenommen wird, wird um Ankündigungen ergänzt, in Südosteuropa Infrastrukturprojekte zur engeren Anbindung an die EU mit Milliardensummen zu fördern und der Region eine größere Menge an COVID-19-Impfstoffen zur Verfügung zu stellen. Bisher hat China weitaus mehr Impfdosen geliefert als die EU; es baut darüber hinaus in Serbien eine Vakzinfabrik. Der Premier Lettlands spitzt die Forderung, der Einfluß von Staaten wie Rußland oder China müsse aus Südosteuropa abgedrängt werden, in der Äußerung zu: »Das ist unser Hinterhof!«

Nicht mehr alternativlos

Hintergrund der Gipfelbeschlüsse ist, daß die EU –immer mehr mit sich selbst beschäftigt und sich in ihren globalen Aktivitäten zunehmend verzettelnd – in den Ländern Südosteuropas, die ihr nicht angehören, längst nicht mehr alternativlos ist. So stärkt Rußland seine Beziehungen beispielsweise zu Nordmazedonien sowie insbesondere zu Serbien, dessen drittwichtigster Handelspartner es schon seit Jahren ist; Moskau hat zudem unter anderem eine Strategische Partnerschaft und ein Militärabkommen mit Belgrad geschlossen.

China wiederum intensiviert seine Beziehungen zu fast allen Ländern der Region, ist mittlerweile zweitwichtigster Lieferant Serbiens – nur knapp hinter Deutschland – und unterstützt vor allem Infrastrukturprojekte in Südosteuropa; bekanntestes Beispiel ist die Modernisierung der Eisenbahnstrecke zwischen Belgrad und Budapest.

Eine zwar nur wenig beachtete, aber doch relativ erfolgreiche Einflußarbeit betreibt die Türkei, die vor allem mit Ländern kooperiert, deren Bevölkerung einen signifikanten muslimischen Anteil aufweisen – insbesondere mit Bosnien-Herzegowina, aber auch mit Albanien und dem Kosovo. Dort hatte sich auch die Trump-Administration im vergangenen Jahr massiv eingemischt – gegen den Willen der EU.

»Wir oder andere«

In der EU ruft der partielle Einflußgewinn der erwähnten Staaten in Südosteuropa Unmut und Abwehrbestrebungen hervor. Bereits seit 2014 findet jedes Jahr eine »Westbalkankonferenz« statt, bei der einige – meist wenige – EU-Staaten und die EU-Kommission mit den sechs Nicht-EU-Ländern Südosteuropas zusammenkommen. Ziel ist es, deren Bindungen an die EU zu stärken. Konkreter Auslöser für die Gründung des Formats, das zuweilen als »Berliner Prozeß« bezeichnet wird, war der erste »16+1«-Gipfel im April 2012, in dessen Rahmen China seither jährlich mit den EU- und Nicht-EU-Ländern Ost- und Südosteuropas zusammentrifft.

Größere Erfolge sind freilich bis heute ausgeblieben, weshalb Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz den Westbalkangipfel am Mittwoch zum Anlaß nahm, um zu warnen: »Wenn wir als Europäische Union keine ernsthafte Perspektive für diese Region bieten, dann müssen wir uns bewußt sein, daß andere Supermächte wie China, Rußland oder auch die Türkei dort eine immer stärkere Rolle spielen.« Ähnlich äußerte sich Lettlands Premierminister Krišjānis Kariņš, der konstatierte, sofern »Europa« nicht »die Hand ausstreckt und diese Länder an uns zieht«, dann würden andere »in eine andere Richtung« ziehen. Kariņš formulierte offen: »Das ist unser Hinterhof!«

Lippenbekenntnisse

Unter Druck stehend, hat sich die EU am Mittwoch um verbale Zugeständnisse bemüht. Dabei geht es darum, daß die sechs Nicht-EU-Länder Südosteuropas die EU-Mitgliedschaft anstreben, aber seit Jahren hingehalten werden; mittlerweile gilt ihr Beitritt aufgrund diverser Widerstände innerhalb des Staatenbündnisses nicht mehr als realistische Option. Um diesem – zutreffenden – Eindruck entgegenzutreten, hat Brüssel in die am Mittwoch verabschiedete »Brdo Declaration« die Formulierung aufgenommen: »Die EU bekräftigt erneut, daß sie den Erweiterungsprozeß (...) unterstützt«. »Erweiterungsprozeß« ist in der Erklärung fettgedruckt. Freilich überzeugt dieses Bekenntnis kaum jemanden; »Politiker in Ländern Nord- und Westeuropas« würden zur EU-Erweiterung regelmäßig »Lippenbekenntnisse« abgeben, sagte z.B. der ehemalige kosovarische Außenminister Petrit Selimi: »Die EU-Erweiterung ist de facto tot.«

In der Tat schränkt die »Brdo Declaration« die angebliche Unterstützung des Erweiterungsprozesses direkt wieder dadurch ein, es gebe sie lediglich »auf der Grundlage glaubwürdiger Reformen der Partner« und »einer fairen und strengen Konditionalität«. Der Forderung Sloweniens, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, die Erweiterung bis spätestens 2030 umzusetzen, wurde eine klare Absage erteilt.

Keine neuen Mittel

Zu den wenigen konkreten Maßnahmen, die auf dem Gipfel beschlossen wurden, gehört ein knapp 30 Milliarden Euro schweres Investitionspaket. Es sieht Zuschüsse im Wert von neun Milliarden Euro vor, die durch Kredite in Höhe von 20 Milliarden Euro aus der neuen »Garantiefazilität für den Westbalkan« aufgestockt werden sollen; damit sollen »vor allem die Infrastruktur auf dem Balkan und seine Anbindung an die EU finanziert werden«. Es handelt sich damit um eine unmittelbare Gegenmaßnahme gegen chinesische Unterstützung für Infrastrukturvorhaben in Südosteuropa. Allerdings handelt es sich dabei nicht um neue Mittel; die EU-Kommission hat sie schon im vergangenen Jahr prinzipiell eingeplant.

Der wichtigste Impfstofflieferant

Zudem kündigt die EU an, die sechs Nicht-EU-Staaten Südosteuropas im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie zu unterstützen. Schon jetzt hätten die EU »und ihre Mitgliedstaaten (...) dem Westbalkan über verschiedene Kanäle 2,9 Millionen Impfdosen zur Verfügung gestellt«, heißt es in der »Brdo Declaration«. Weitere Impfdosen seien »auf dem Weg«; man wolle den südöstlichen Ländern dabei helfen, »bis Ende 2021 ähnliche Impfquoten wie die durchschnittliche Impfquote in der EU zu erreichen«.

Sollte das gelingen, dann kann die EU dies freilich nicht allein sich selbst zuschreiben. So haben die Länder der Region neben russischen »Sputnik V«-Vakzinen vor allem chinesische Impfstoffe (Sinopharm, Sinovac) erhalten; die chinesischen Lieferungen belaufen sich bislang laut Angaben des Pekinger Beratungsunternehmens Bridge Consulting auf 7,6 Millionen Impfdosen. In Serbien, das bereits über ein Werk zur Produktion des russischen »Sputnik V«-Vakzins verfügt, wird nun auch eine Fabrik zur Herstellung des chinesischen Sinopharm-Impfstoffs errichtet. Es handelt sich dabei um ein Joint-venture, das Serbien gemeinsam mit China und den Vereinigten Arabischen Emiraten trägt; sein Wert beläuft sich auf 30 Millionen Euro.

Propaganda statt Taten

Offenbar ahnend, daß die nur mäßige materielle Unterstützung der EU nicht ausreichen wird, um die sechs Länder Südosteuropas fest an sich zu binden, fordert Brüssel nun auch Bekenntnisse ein. Die EU sei »mit Abstand der engste Partner, größte Investor und wichtigste Geber der Region«, heißt es in der »Brdo Declaration«: »Wie beispiellos Umfang und Tragweite dieser Unterstützung sind, muß in der öffentlichen Auseinandersetzung und Kommunikation der Partner ohne Einschränkungen anerkannt und vermittelt werden.« Die mangelnde politisch-ökonomische Bindekraft wird damit durch propagandistische Aktivitäten ersetzt.