Ausland11. Juni 2021

Der Libanon – Spielball vieler Interessen

von Karin Leukefeld, Beirut

Es ist ein unscheinbares Schild, das auf der Hamra Straße in Beirut an die israelische Besatzung des Libanon 1982 erinnert. Die israelischen Truppen waren am 6. Juni des Jahres in den Süden des Landes eingedrungen und bis nach Beirut vormarschiert, um die Palästinensische Befreiungsorganisation, PLO zu zerschlagen.

Ein Rückblick

Auf dem Schild ist das Gesicht eines jungen Mannes zu sehen, der eine Brille und Schnauzbart trägt. Das Bild ist verblichen, die Metallhalterung ist ebenso verbogen wie die Stange, an der es befestigt ist. Das Schild erinnert an die »Wimpy Operation«, bei der Mann auf dem Bild, Khaled Alwan, im September 1982 im Café Wimpy auf der Hamra Straße einen israelischen Offizier und zwei ihn begleitende Soldaten erschoß. Manche Berichte sagen, es seien zwei Offiziere getötet worden und die beiden Soldaten seien nur verletzt worden.

In jedem Fall war Alwan damals 19 Jahre jung, und Zeugen der Tat berichteten später, daß er ganz ruhig in das Café gekommen sei. Er habe die Kellner und andere Gäste zur Seite geschoben, habe eine Pistole gezogen und die Kaffee trinkenden israelischen Besatzer erschossen. Danach habe er das Café verlassen und sei nach Hause gegangen.

Die Nachricht über das Geschehen im Café Wimpy verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Stadt, und in vielen Teilen Beiruts ging die Bevölkerung gegen die israelischen Besatzer vor. Die israelische Armeeführung habe daraufhin die Soldaten und Offiziere aufgefordert, sich aus dem Zentrum von Beirut zurückzuziehen, berichtet ein Militanter der damaligen Zeit.

Khaled Alwan war Mitglied der Syrischen Nationalistischen Sozialen Partei, SSNP, die wiederum Teil der Nationalen Libanesischen Widerstandsfront war, die für den Angriff im Café Wimpy die Verantwortung übernahm. Die israelischen Truppen zogen sich nur wenige Tage nach dem Attentat an den südlichen Rand von Beirut zurück.

Khaled Alwan, der später für seinen Widerstand gegen die israelische Besatzung mit dem libanesischen Ritterorden ausgezeichnet wurde, starb 1984 bei einem Hinterhalt. Der Platz am Café Wimpy in Hamra trägt bis heute seinen Namen.

Kriege und Krisen

Etwa 63 Prozent der Libanesen sind heute im Alter zwischen 15 und 63 Jahren und haben die Zeit der Israelischen Besatzung ebenso in Erinnerung, wie den Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 dauerte, verschonte niemanden. Die israelische Besatzung des Libanon ging erst mit dem Rückzug der israelischen Streitkräfte im Jahr 2000 aus dem Südlibanon zu Ende.

Doch die Libanesen sollten nicht zur Ruhe kommen. Das Taif-Abkommen, mit dem 1990 der libanesische Bürgerkrieg endete, bestätigte den konfessionellen Ausgleich zwischen Christen, schiitischen und sunnitischen Muslimen in Parlament und Regierung. Die Klausel, wonach das konfessionelle System durch ein säkulares politisches System mit neuer Verfassung und neuem Wahlrecht ersetzt werden solle, wurde nicht umgesetzt. Fortlaufende Regierungskrisen waren die Folgen, die politischen Eliten – einflußreiche Familien, die sich den Libanon – mit ausländischer Hilfe – seit mehr als 100 Jahren untereinander aufteilen – blockieren sich gegenseitig, um dann wieder Bündnisse zu schließen, wenn es sich für alle Beteiligten wirtschaftlich lohnt.

Libanon im Dauerstreß

Seit zwei Jahren wird der Libanon von einer massiven Wirtschaftskrise erschüttert, die durch den Rücktritt der Regierung von Saad Hariri 2019, die Blockade der folgenden Regierung unter Premierminister Hassan Diab 2020, die Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 und den darauf folgenden Rücktritt der Regierung Diab verschärft wurde. Eine galoppierende Inflation, Korruption und Vetternwirtschaft haben das Land nahezu zahlungsunfähig gemacht. Ersparnisse der Libanesen auf Bankkosten lösten sich nahezu in Luft auf, wurden nicht ausgezahlt oder die Menschen erhielten nur einen Bruchteil dessen, was das Geld einmal wert war.

Die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, vor allem Brot, und von Benzin ist gefährdet. Staatliche Gehälter und Pensionen sind eingebrochen, Ärzte, medizinisches Fachpersonal, Lehrer, Ingenieure verlassen zu Tausenden das Land, um in den Golfstaaten, irgendwo in Europa oder an einem anderen Ort der Welt gut bezahlte Arbeit zu finden. Erneut trat Saad Hariri als Ministerpräsident an und wurde mit der Regierungsbildung beauftragt. Doch ein Streit zwischen ihm und dem amtierenden Präsidenten Michel Aoun um zwei Ministerposten, die entsprechend der konfessionellen Ordnung mit Christen besetzt werden müssen, ist seit Monaten ungelöst.

Drei große Niederlagen

Die Menschen im Libanon wissen nicht, wie sie überleben sollen, sagt Marie Debs, langjährige Verantwortliche für internationale Beziehungen bei der Kommunistischen Partei des Libanon im Gespräch mit der Autorin in Beirut. Doch einen Staat gebe es nicht im Libanon und »die politischen Eliten sind an der Situation der Bevölkerung nicht interessiert. Sie wissen, daß die vom Ausland finanzierten Hilfsorganisationen sich um die Menschen kümmern und sie wissen, daß die Menschen zu viel Angst vor einem neuen Bürgerkrieg haben, als daß sie einen wirklichen Aufstand gegen das System wagen würden.«

Die jungen Leute, die in den letzten Monaten als »Aktivisten« auf die Straße gegangen waren, hätten keine Veränderung gesehen und versuchten nun das Land zu verlassen. Die politischen oppositionellen Kräfte, Parteien und Gewerkschaften, seien zerstritten oder zu schwach, um eine wirkliche Alternative zu sein, gibt die Kommunistin zu. »Wir haben im Libanon drei große Niederlagen zu verkraften: den Zusammenbruch der Sowjetunion, den Zerfall der Arabischen Nationalen Einheit gegenüber Israel und schließlich das Scheitern nach dem Bürgerkrieg. Wir haben den Konfessionalismus nicht beseitigt, die Bourgeoisie ist zurück.«

Schnörkellos beschreibt Marie Debs die schwierige politische Lage der Linken im Libanon. Große Sorge bereite ihr der Mangel an Organisierung, an Mut und Enthusiasmus der Sozialisten und Kommunisten. Es fehle »die starke Kraft im Rücken«, die aus der Sowjetunion gekommen sei. Die kommunistische Bewegung sei in einer schweren Krise, das werde bei internationalen Treffen deutlich, so Debs weiter. »Manche wollen sich den neuen Bewegungen unterordnen, weil diese die Jugend anziehen. Sie wollen nicht mehr ‚Militante’ sondern ‚Aktivisten’ sein«, beschreibt sie eine Linie. Andere seien dagegen extrem dogmatisch. Debs plädiert für eine »Erneuerung der kommunistischen Bewegung«, es gebe viel zu tun.

Die humanitäre Hilfe, die den Menschen von Hilfsorganisationen angeboten werde, mache diese passiv. Die Jugend werde mit Angeboten für Bildung, Fortbildung und der Entwicklung eigener Projekte in die USA oder in europäische Länder »gelockt«, wo sie mit neuen und anderen Ideen in Berührung kommen. »Wir können der Jugend kein Geld, keine Karriere, kein interessantes Leben im Jet-Set internationaler Nichtregierungsorganisationen bieten«, sagt Marie Debs. Doch »wenn wir nicht um unser Land kämpfen und darum, einen Staat aufzubauen, wenn wir nicht selber unsere Zukunft bestimmen, sondern die Ideen und das Geld anderer übernehmen, werden wir ganz verlieren.«

Schwieriger Alltag

Im Alltag sieht es für die Libanesen derweil düster aus. Lange Schlangen vor den Tankstellen weisen auf die Versorgungskrise mit Öl und Benzin hin. Ölfrachter liegen vor der Küste und löschen die Ladung nicht, weil der Libanon nicht bezahlt. Betroffen ist auch die Stromversorgung, die nur funktioniert, wenn die Elektrizitätswerke mit Öl oder Gas versorgt sind und betrieben werden können. Das türkische Stromversorgungsschiff Orhan Bey von der Firma Karadeniz Powership, das vor der Küste des Landes liegt und Strom ins nationale Netz einspeiste, stellte Mitte Mai den Betrieb ein, weil Rechnungen in Millionenhöhe seit 18 Monaten nicht bezahlt worden waren.

Viele Libanesen gleichen den täglichen Strommangel aus, indem sie Strom von lokalen Generatoren dazukaufen. Am vergangenen Wochenende kündigte der Zusammenschluß der Besitzer von Generatoren an, ihr Stromangebot täglich um 5 Stunden zu verringern, weil sie nicht genügend Öl kaufen könnten. Die Libanesische Zentralbank hatte bisher den Kauf von Öl subventioniert und die Einkäufer mit US-Dollar zum ursprünglichen Kurs von 1.500 Libanesischen Pfund versorgt. Man wisse nicht, ob man weiter mit US-Dollar versorgt werde, hieß es von den Generatorenbetreibern. Sollte die Subventionierung ausfallen, müßten sie ihr Angebot einschränken.

Mangel an Strom könnte den wirtschaftlichen Neubeginn nach acht Monaten Corona-Lockdown stoppen, heißt es in libanesischen Medien. Unternehmen und Fabriken, aber auch Krankenhäuser, Schulen und Universitäten wären betroffen. Hassan Nasrallah, Generalsekretär der libanesischen Hisbollah, sagte am Dienstagabend anläßlich des 30-jährigen Bestehens des Nachrichtensenders »Al Manar«, der der Hisbollah nahesteht, sollte der Staat das Land nicht mit Öl und Strom versorgen, werde die Hisbollah Öl aus dem Iran holen und der Bevölkerung zur Verfügung stellen.

Der Ernst der Lage brachte am Dienstag den noch amtierenden Ministerpräsidenten Hassan Diab mit Interims-Finanzminister Ghazi Wazni, mit Energieminister Raymond Ghajar und anderen aus seinem Kabinett zusammen, um die Lage zu diskutieren. Diab unterzeichnete schließlich eine Anordnung für die Libanesische Zentralbank, dem staatlichen Stromversorger Électricité du Liban einen Kredit von 200 Millionen US-Dollar zur Verfügung zu stellen, um Öl und Benzin zu kaufen. Präsident Michel Aoun zeichnete gegen.

Erwartet wird nun, daß in den nächsten Tagen die vor der Küste wartenden Öltanker ihre Fracht löschen und die Stromversorgung im Libanon stabilisiert werden kann. Man habe auch mit dem Irak über weitere Öllieferungen zu günstigen Konditionen verhandelt, sagte Ghajar.

Schlimmste Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1850

Die aktuelle Wirtschaftskrise im Libanon wird von der Weltbank als eine der schlimmsten Wirtschafts- und Finanzkrisen im Libanon seit 1850 bezeichnet. Sie gehöre zu den schwersten Wirtschaftskrisen weltweit seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die politische Untätigkeit und eine nicht funktionierende Regierung bedrohten »die ohnehin katastrophalen sozioökonomischen Verhältnisse und einen brüchigen sozialen Frieden«, hieß es in einer Erklärung. Wegen des drohenden Staatsbankrotts stagnierten Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, IWF, über ein Programm, daß das Land allerdings in noch größere und langandauernde Abhängigkeit bringen wird. Der IWF will darüber hinaus nur tätig werden, wenn wirtschaftliche Reformen umgesetzt und die Korruption im Land bekämpft wird.

Gegen den Direktor der Libanesischen Zentralbank Riad Salamé sind derweil in der Schweiz und in Frankreich Ermittlungen wegen »grober Fälle von Geldwäsche« eingeleitet worden. Salamé, der die Zentralbank seit 30 Jahren leitet, war von Unterstützern sogar als Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht worden, andere werfen ihm vor, sein Amt ausgenutzt zu haben, um sich persönlich zu bereichern. Seit 2019 hat das Libanesische Pfund mehr als 80 Prozent seines Wertes verloren.

In einem jüngst bekannt gewordenen Schreiben der Schweizer Ermittler heißt es, daß Salamé seinem Bruder Radscha mindestens seit 2002 bei der Veruntreuung von Geld geholfen haben soll. Es soll um mehr als 300 Millionen US-Dollar gehen. Radscha Salamé sitzt im Vorstand des libanesischen Bau- und Immobilienunternehmen Solidere. Das veruntreute Geld soll an eine Offshore-Firma auf den Britischen Jungferninseln geflossen und dann in Immobilien in der Schweiz und Britannien investiert worden sein.