Ausland30. September 2022

Am 30. September 1938 wurde das Münchner Abkommen unterzeichnet

Der Weg in den Zweiten Weltkrieg

von Erik Höhne

In den nahe der Grenze zu Deutschland gelegenen Regionen der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakei (ČSR) lebten Angehörige einer deutschstämmigen Minderheit, die sogenannten Sudetendeutschen. Seit der Machtübertragung an die Nazis im Januar 1933 in Deutschland hatte in den Reihen dieser Volksgruppe die Sudetendeutsche Partei enorm an Einfluß gewonnen. Unter ihrem Führer Konrad Henlein fungierte sie faktisch als Auslandsfiliale der Nazipartei. Diese wiederum verbreitete ausgiebig Berichte über Verfolgung und Diskriminierung, denen die Sudetendeutschen von tschechoslowakischer Seite angeblich ausgeliefert seien. Das Deutsche Reich trat als Schutzmacht einer verfolgten Minderheit auf – eine bis heute nicht aus der Mode gekommene Methode zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten mißliebiger Staaten.

Der Kern des Münchner Abkommens bestand nun darin, daß sich Édouard Daladier (Frankreich), Neville Chamberlain (Britannien) und Benito Mussolini (Italien) mit Adolf Hitler darauf einigten, daß die Tschechoslowakei die Sudetengebiete an Deutschland abzutreten habe. Die tschechoslowakische Regierung wurde nicht gefragt – sie war nicht einmal nach München eingeladen worden. In klassischer Kolonialherrenmanier verschenkten die Westmächte Land, das ihnen nicht gehörte. Nicht verschwiegen werden sollte, daß auch Polen die Gunst der Stunde nutzte und sich auf tschechoslowakische Kosten mit dem Anschluß des Teschener Gebiets bediente.

Nach seiner Rückkehr nach London verkündete Chamberlain freudig: »Peace for our time!« Er präsentierte sich als derjenige, der nun mit einem seiner Meinung nach akzeptablen Zugeständnis Deutschland zufriedengestellt und für Europa den Frieden gerettet habe. Daß diese Perspektive auf Sand gebaut war, zeigte sich noch nicht einmal ein Jahr später, als die Naziwehrmacht am 15. März 1939 über das annektierte Sudetengebiet hinaus in Tschechien einrückte. Der tschechische Landesteil wurde als »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« deutscher Verwaltung unterstellt, während die Slowakei zu einem formal unabhängigen faschistischen Satellitenstaat umgeformt wurde.

Die sowjetische Regierung hatte sowohl Frankreich als auch der Tschechoslowakei militärische Kooperation angeboten, um Nazideutschland wirksam entgegenzutreten und die Souveränität der ČSR zu schützen. Freilich waren die sowjetischen Möglichkeiten hier begrenzt, hätte es doch einer Durchmarschgenehmigung Polens bedurft, damit die Rote Armee die tschechoslowakischen Truppen hätte unterstützen können – und daran wurde seitens der polnischen Regierung in keiner Weise gedacht.

Was ist von der Interpretation zu halten, daß es sich beim Münchner Abkommen um einen Versuch der Friedensrettung gehandelt habe? Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung zum Beispiel macht sich diese Sichtweise zu eigen. Der Komintern-Vorsitzende Georgi Dimitroff merkte in seinen Tagebuchaufzeichnungen an, das Münchner Abkommen sei letztlich gegen die Sowjetunion gerichtet. Josef Stalin stellte in seinem Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag der KPdSU Überlegungen darüber an, ob man Deutschland Gebiete der Tschechoslowakei nicht als Kaufpreis für den zu beginnenden Krieg gegen die Sowjetunion überlassen habe. Schließlich sei in der politischen Öffentlichkeit der Westmächte durchaus Enttäuschung darüber zu bemerken, daß dieser bislang ausgeblieben wäre.

Unverkennbar war in München das Bemühen, die Sowjetunion von den Entscheidungen auszuschließen. Das bis dahin von Deutschland sowie von seinen Partnern Japan und Italien gezeigte Verhalten läßt es wenig wahrscheinlich erscheinen, daß die durch Chamberlain nach der Vertragsunterzeichnung demonstrierte Friedensseligkeit ernst zu nehmen war. Offenbar ging es weniger um die Rettung des Friedens als vielmehr darum, einem zu erwartenden Krieg die gewünschte Stoßrichtung zu verleihen. Mit der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrags gelang es der Sowjetunion, diese Planungen zumindest vorerst noch einmal zu durchkreuzen.

Wenn sich Chamberlain und Daladier in München als Heuchler gezeigt hatten, so findet diese Heuchelei ihre Fortsetzung bis auf den heutigen Tag. Der Nichtangriffsvertrag zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich soll nun den Sündenfall darstellen, welcher den Zweiten Weltkrieg erst ermöglicht habe. Über den Verrat von München hingegen schweigt man schamhaft, ebenso wie über die westliche Zurückweisung von sowjetischen Kooperationsangeboten zur Eindämmung Hitlerdeutschlands im Vorfeld von München. Von dort zieht sich – wenn auch nicht ohne Umwege – eine Linie bis zum Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

Wann begann der Zweite Weltkrieg?

Als das »Abkommen zwischen Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Frankreich und Italien« – besser bekannt als Münchner Abkommen – in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 unterzeichnet wurde, standen die Zeichen in Europa und Asien bereits auf Sturm – und es ist berechtigt zu fragen, ob die bis heute gültige Terminierung des Beginns des Zweiten Weltkriegs mit dem 1. September 1939 nicht zu spät angesetzt ist.

Schließlich hatte Japan bereits am 18. September 1931 die zu China gehörende Mandschurei überfallen. Am 1. März 1935 verleibte sich Hitlerdeutschland das Saarland ein. Mussolinis Truppen fielen am 3. Oktober 1935 über Äthiopien her. Ab dem 7. März 1936 marschierte die Wehrmacht in das zuvor entmilitarisierte Rheinland ein. Und nur vier Monate später eröffnete Francisco Franco am 17. Juli 1936 den Krieg gegen die Spanische Republik mit großzügiger Hilfe durch Hitler und Mussolini.

Am 7. Juli 1937 schließlich weitete sich der chinesisch-japanische Konflikt zu einem umfassenden Krieg aus. Beim Massaker von Nanking im Dezember desselben Jahres fielen 300.000 Chinesinnen und Chinesen den barbarischen Exzessen der japanischen Truppen zum Opfer. Als man in München zusammenkam, hatten Deutschland und seine Verbündeten also bereits gezeigt, was von ihnen zu erwarten war.