Leitartikel07. Oktober 2020

Fanal aus Genf: 21 Euro Stundenlohn für alle

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Ende dieses Monats wird in Genf ein Mindestlohn von 23 Schweizer Franken (rund 21 Euro) für alle Schaffenden eingeführt. Bei den in Genf üblichen 42 Arbeitsstunden pro Woche entspricht das einem Monatslohn von mindestens 4.182 Franken oder rund 3.800 Euro pro Monat. Die Schweizer Gewerkschaften konnten dieses wichtige Etappenziel im Kampf gegen Lohndumping erreichen, weil eine deutliche Mehrheit von 58,2 Prozent der Abstimmungsberechtigten Ende September für ihre Initiative votiert haben.

Davon werden rund zehn Prozent der Schaffenden in Genf profitieren, also 30.000 Männer und Frauen, die heute weniger als 23 Franken verdienen. Das sind zu zwei Dritteln weibliche Schaffende. Und auch die
Sans-Papiers haben das Recht auf den Mindestlohn, wurde noch am Wahlabend bestätigt.

Es war bereits die dritte Abstimmung über die Einführung eines Mindestlohns in der Schweiz innerhalb von neun Jahren. Mit Genf führt der dritte Westschweizer Kanton einen Minimallohn ein. Nun erhöhen die Gewerkschaften in der Deutschschweiz den Druck, daß vor allem Städte die tiefsten Saläre ihrer Gemeindebeamten anheben.
Das Abstimmungsergebnis in Genf betrachten die Salariatsvertreter als Durchbruch und als Signal für die ganze Alpenrepublik. Daß Genf nun den »höchsten Mindestlohn der Welt« bekommt, relativieren sie mit Verweis auf die hohen Lebenskosten in der Schweiz und insbesondere am Genfersee.

Trotz der guten Argumente der Gewerkschaften kam das Abstimmungsergebnis überraschend. Die Genfer hatten sich in den letzten Jahren zweimal gegen einen Mindestlohns ausgesprochen: 2011 brachten 54 Prozent ein ähnliches Anliegen zu Fall. 2014 stimmten die Schweizer über eine nationale Mindestlohninitiative ab, die in Genf mit 60 Prozent Nein-Stimmen durchfiel. Auch für die neue Vorlage sah es anfangs schlecht aus. Im Oktober 2019 sprach sich der Genfer Großrat mit 54 zu 41 Stimmen gegen die Initiative aus. Und auch die Kantonsregierung empfahl ein Nein beim Urnengang.

Wie verhalfen die Gewerkschaften ihrem Anliegen zum Durchbruch? Wie gelang es ihnen, die üblichen Behauptungen der Patronatsvertreter zu entkräften? Diese hatten eindringlich davor gewarnt, mit der Annahme des Mindestlohns gingen massenhaft Stellen verloren. Statt dessen sprach sich das Patronat dafür aus, bei Lohnverhandlungen weiter auf die »bewährte Sozialpartnerschaft« zwischen ihren Vertretern und denen des Salariats zu setzen.

Zum Meinungsumschwung dürfte unter anderem die Coronakrise beigetragen haben. Trotz verbreiteter Kurzarbeit gingen im Kanton Genf in den letzten Monaten Hunderte Arbeitsstellen verloren. Dazu kommt: Der Kanton will seinen Angestellten den Lohn kürzen, die Stadt Genf ihre heutigen Löhne bis auf weiteres »einfrieren«. Die Menschen sind beunruhigt. Die Angst vor einem Stellenverlust und Lohndumping ist groß. Auch die Bilder der Tausenden mittellosen Menschen, die im reichen Genf auf kostenlose Nahrungsmittel angewiesen sind, haben viele verstört.

Wichtig war aber auch: Das Argument, vor allem Grenzgänger profitierten von einem Mindestlohn, stieß auf weniger Resonanz als in vergangenen Jahren. Zudem haben die Westschweizer Kantone Neuenburg (seit 2017) und Jura (seit 2018) Mindestlöhne, ohne daß deren Wirtschaft Schaden nahm oder es zu Massenentlassungen gekommen wäre.

Das Fanal aus Genf sollte die luxemburgischen Gewerkschaften darin bestärken, ihren Kampf gegen Lohndumping in diesem Sinne weiterzuführen.

Oliver Wagner