Ökonomischer Selbstmord
Embargo-Töne werden schriller
Die Statements von Marieluise Beck vom ThinkTank »Zentrum liberale Moderne« und der sogenannten Wirtschaftsweisen Veronika Grimm bei der Sonntagabend-Talkshow »Anne Will« am 3. April sind nur zwei Beispiele dafür, wie die Rufe nach einem Embargo für russisches Gas, Erdöl und Kohle immer schriller werden. Daß ein solches Embargo nicht nur Rußland wirtschaftlich schwächen würde, sondern vor allem verheerende Folgen für Deutschland und andere Volkswirtschaften in der EU hätte, wird von den neuen »Kalten Kriegern« in den allabendlichen Sondersendungen und Talkshows gerne ignoriert. Der irrationale Haß auf Rußland scheint hier größer zu sein als jegliche wirtschaftliche Vernunft.
In dieser von Ignoranz und Russophobie geprägten Atmosphäre heben sich die Warnungen von Reiner Hoffmann vor ökonomischen Risiken und massiven Jobverlusten infolge einer solchen Sanktionspolitik positiv ab. Die Aussagen des scheidenden DGB- Chefs, wie im »Handelsblatt« vom 6. April, lassen sich mit ökonomischen Fakten belegen. Die Energieversorgung der EU und insbesondere Deutschlands ist enorm abhängig von Rußland. So fußt die deutsche Energieversorgung bislang zu 55 Prozent auf Erdgas, zu 50 Prozent auf Steinkohle und zu 35 Prozent auf Erdöl aus der Russischen Föderation. In Summe sind dies mehr als 30 Prozent des deutschen Primärenergieverbrauchs, die mit russischen Energieträgern gedeckt werden.
Mit Blick auf Kohle und Erdöl, behaupten die Befürworter eines Embargos, ließen sich bis zum Jahresende andere Lieferländer akquirieren. Inzwischen hat die EU-Kommission tatsächlich den Stopp von Kohleimporten aus Rußland auf den Weg gebracht. In das Bild paßt auch der Besuch von Wirtschaftsminister Habeck in Katar und den Arabischen Emiraten, um im Rahmen einer »werteorientierten Außenpolitik« die Energieversorgung der deutschen Industrie auf neue Füße zu stellen.
Bei Erdgas gestaltet sich die Situation jedoch deutlich komplexer als bei Kohle oder Erdöl. Studien zeigen, daß der kurzfristigen Einsparung von Erdgas starke Grenzen gesetzt sind. Demnach lassen sich kurzfristig knapp 20 Prozent des deutschen Gasbedarfs substituieren oder einsparen, was etwa einem Drittel der Gasimporte aus Rußland entspricht. Insbesondere im Bereich der industriellen Produktion, die rund 30 Prozent des Gasverbrauchs in Deutschland ausmacht, liegt das kurzfristig zu realisierende Einsparpotential bei weniger als 10 Prozent. Hinzu kommt, daß die deutschen Erdgasspeicher derzeit einen historischen Tiefstwert von nur 25 Prozent Füllstand aufweisen. Um den kommenden Winter reibungslos zu überstehen, müßte nach Einschätzung von Experten der Sommer für deren Befüllung auf mindestens 90 Prozent genutzt werden.
Würde das russische Erdgas aufgrund eines Embargos nicht mehr zur Verfügung stehen, ist dies utopisch. Drastische Einschränkungen insbesondere bei der industriellen Produktion wären die Folge. Das Wirtschaftsforschungsinstitut IMK geht von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von 6 Prozent und mehr aus. Höhere und dauerhaftere Schäden sind angesichts von Abhängigkeiten und Verflechtungen moderner Produktionsstrukturen und internationaler Lieferketten wahrscheinlich. Ein drastischer und möglicherweise dauerhafter Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre die Folge, insbesondere dann, wenn durch die Unterbrechung der Erdgasversorgung Dominoeffekte entstehen und Wertschöpfungsketten reißen, Vorprodukte wegfallen, Industrieanlagen dauerhaft geschädigt und in Folge geschlossen werden müßten.
Ein anschauliches Beispiel hierfür ist die Glasproduktion für die Verpackung von Lebensmitteln. Kann das Glas nicht mehr produziert werden, können auch die Lebensmittel nicht mehr verpackt werden und die Supermarktregale bleiben leer. Auch für die Herstellung von Lebensmitteln selbst wird viel Erdgas verwendet, was entsprechend höhere Preise an der Ladentheke bedeutet. Ähnliche Auswirkungen sind für verschiedenste Branchen zu erwarten und würden auch dort die Endverbraucher mit voller Wucht treffen. Die ohnehin schon stark gestiegenen Lebensunterhaltskosten würden weiter zunehmen. Vor dem Hintergrund des gigantischen Niedriglohnsektors in Deutschland, sind dann viele Lohnabhängige nicht mehr in der Lage, die steigenden Kosten zu zahlen.
Man muß daher weder Kommunist noch »Putin-Versteher« sein, ein Blick auf die Fakten und wirtschaftlichen Kennziffern genügt, um zu erkennen, daß ein Embargo russischer Energieträger einem ökonomischen Selbstmord gleichkäme.