Leitartikel03. Oktober 2016

Gefährlicher Revisionismus

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Weitgehend unbeachtet von den westlichen Medien hat der türkische Staatschef Erdogan in der vergangenen Woche zu einem neuen Schlag gegen die fragile, aber noch bestehende Friedensordnung in Europa ausgeholt. In einer Rede vor Gemeindevorstehern erklärte der Autokrat, daß der Vertrag von Lausanne von 1923 einer Revision unterzogen werden müsse. Das Abkommen, das seinerzeit vor allem das Ende des Türkisch-Griechischen Krieges besiegelte sowie die Grenzen der Türkei festlegte, sei eine »Niederlage für die Türkei« und enthalte »unfaire Bestimmungen«. Griechische Medien konzentrieren sich in ihrer Berichterstattung vor allem darauf, daß Erdogan mit seinen Bemerkungen die Grenzziehung zwischen der Türkei und Griechenland in Frage stellt. Es gehe um die griechischen Agäis-Inseln, die sich »in Rufweite der Türkei« befinden, wird Erdogan zitiert, und es gelte festzulegen, was ein Festlandsockel sei und wo sich die Grenze zwischen beiden Staaten zur See, zu Land und in der Luft befinden. Damit liefern die griechischen Medien neues Feuer für die latente Angst vieler Griechen vor einem neuen Krieg mit dem NATO-Partner Türkei – eine Angst, die von der regierenden »linken« SYRIZA und ihrem Kriegsminister von der rechtskonservativen ANEL auch dazu genutzt wird, den irrsinnig hohen Militäretat des bankrotten Staates zu rechtfertigen.

Der Vertag von Lausanne, der am 24. Juli 1923 durch die Türkei mit Großbritannien, Frankreich, Italien, Griechenland, Japan, Rumänien sowie dem damaligen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen unterzeichnet worden war, ist in erster Linie ein Friedensvertrag zwischen der Türkei und den Mächten der Entente. Er regelte auch den »Bevölkerungsaustausch«, das heißt die zum größten Teil gewaltsame Aussiedlung von rund 1,25 Millionen Griechen aus der Türkei und etwa einer halben Million Türken aus Griechenland, die für viele Griechen noch heute mit grauenvollen Erinnerungen verbunden ist.

Allerdings ist es erneut die Rolle der Kommunisten, auf größere Zusammenhänge hinzuweisen. In einer Erklärung betont die Kommunistische Partei Griechenlands, das Ziel der »gefährlichen und provokativen Äußerungen« Erdogans sei nicht nur eine mögliche Revision der Grenzen, sondern auch die Schaffung von Grauzonen. So weist die KKE darauf hin, daß Erdogan offensichtlich auch die gegenwärtig stattfinden Verhandlungen über eine Lösung der Zypern-Frage torpedieren will.

Im Abkommen von Lausanne hatte nämlich die Türkei auch die 1914 erfolgte Annexion Zyperns durch Großbritannien akzeptiert, nachdem das Osmanische Reich bis zu jenem Zeitpunkt vollen Anspruch auf die Insel erhoben hatte. Doch bereits in den 50er Jahren gab es aus Ankara eine einseitige Deklaration, laut der die Türkei die Bestimmungen des Vertrags von Lausanne als hinfällig betrachte, falls sich der Status Zyperns ändern sollte. Diese Erklärung war eine Reaktion auf Unabhängigkeitsbestrebungen der griechischsprachigen Bevölkerung Zyperns.

Es muß darüber hinaus daran erinnert werden, daß der Vertrag auch den Zugang zum Schwarzen Meer durch den Bosporus regelt. Damals wurde genau festgelegt, wie viele Schiffe mit welcher Tonnage durch die Meerenge fahren dürfen. Angesichts der zunehmenden Manöver der NATO im Schwarzen Meer ist diese Frage heute von großer Bedeutung.
Bisher ist nicht bekannt, ob und wie die Oberen der EU und der NATO auf die jüngsten Provokationen ihres türkischen Protegés reagiert haben – oder ob die Bestrebungen zur Revision eines bedeutenden Friedensabkommens möglicherweise auch mit stillschweigender Billigung der EU und der NATO erfolgten.

Uli Brockmeyer, aus Athen