Leitartikel29. Juli 2025

Zynismus auf die Spitze getrieben

von Uli Brockmeyer

Die jüngere Geschichte hat viele Beispiele für politischen Zynismus. In den letzten 100 Jahren sind diese Beispiele besonders krass – wenn zum Beispiel die Eingangstore zu den Konzentrationslagern der deutschen Faschisten in Auschwitz, Dachau, Sachsenhausen oder Theresienstadt die Inschrift »Arbeit macht frei« trugen. Die meisten der in diesen Lagern zusammengepferchten Antifaschisten, Kriegsgefangenen, Juden, Roma und anderen Arbeitssklaven haben diese Tore mit dieser Inschrift – wenn überhaupt – nur einmal gesehen, nämlich als sie dort wie Vieh hindurchgetrieben wurden.

Außerordentlich zynisch ist es, wenn Regierungen westlicher Länder auf der Grundlage ihrer Vorstellung von »Werten« und »Regeln« Sanktionen gegen unbotmäßige Staaten verhängen, und dabei behaupten, es geschehe im Interesse und zum Wohle der dortigen Bevölkerung. Laut einer Studie sterben im Durchschnitt (!) mehr als 564.000 Menschen im Jahr an Sanktionsfolgen wie Hunger, Mangel an medizinischer Versorgung und fehlenden Hilfsleistungen. Das läßt sich an zahlreichen Beispielen belegen, nicht nur an der zynischen Reaktion der damaligen Außenministerin der USA, Madeleine Albright, die 1996 sagte, die politischen Ziele, die man mit Sanktionen gegen den Irak verfolge, seien »diesen Preis wert«. Der »Preis« waren eine halbe Million Kinder im Irak, die in den 1990er Jahren durch die Folgen der damaligen Sanktionen starben.

Nun hat die Führung des Staates Israel den politischen Zynismus auf eine neue Spitze getrieben. Es reicht den Herren in Jerusalem nicht, daß etwa zwei Millionen Menschen im Gazastreifen durch eine völkerrechtswidrige totale Blockade von jeglichen Lieferungen an Lebensmitteln und allem erdenklichen Material abgeschnitten wurden, ihnen weder Treibstoff noch ausreichend Wasser zur Verfügung stehen, sie tagtäglich mit Bomben und Artilleriefeuer belegt werden. Es reicht ihnen nicht, daß täglich Dutzende Menschen beim Schutzsuchen und Umherirren zwischen den Ruinen von Bomben und Granaten getötet oder bei der Suche nach ein wenig Nahrung erschossen werden. Es juckt sie nicht, wenn die UNO und andere Organisationen wiederholt feststellen, daß Israel tatsächlich und wortwörtlich den Hunger als Waffe einsetzt, wenn bereits mehr als 100 Menschen buchstäblich verhungert sind, darunter mindestens 80 Kinder.

Diese Leute waschen nicht nur ihre schmutzigen, blutbefleckten Hände in der sprichwörtlichen Unschuld – sie beschuldigen auch die Betroffenen, selbst für ihre Misere verantwortlich zu sein. Und um die ganze Welt an der Nase herumzuführen, haben sie sich am Wochenende »großzügig« bereiterklärt, Hilfslieferungen zu gestatten. Von 100 Lastwagen war die Rede, dann noch einmal von 180 am Montag. Gebraucht würden etwa 600 täglich!

Sie schicken ihre Flugzeuge und die von Nachbarn, um Paletten mit Nahrung aus der Luft abzuwerfen, inmitten von Ruinen, auf Menschen, die auf der Straße leben oder auf dem, was vielleicht mal eine Straße war, die keinerlei Möglichkeiten haben, aus den Paketen und Dosen, die sie vielleicht ergattern, eine halbwegs ordentliche Mahlzeit zuzubereiten.

Und gleichzeitig, ja: gleichzeitig (!) schicken sie ihre Flugzeuge, um Bomben abzuwerfen auf die Menschen, die verzweifelt nach Nahrung suchen inmitten der Ruinen.

Wer wissen will, was Zynismus bedeutet, schaue nach Gaza.