Vor 80 Jahren
Die Befreiung von Paris war reich an innenpolitischen Manövern
Der Antikommunist Charles de Gaulle brauchte die Kommunisten
Die Befreiung von Paris, die sich an diesem Wochenende zum 80.Mal jährt, schien ein logischer Schritt zu sein, nachdem die westlichen Alliierten am 6. Juni an der Küste der Normandie gelandet waren und erfolgreich ins Innere von Frankreich vorrückten.
Allerdings befürchtete der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen, General Dwight D. Eisenhower, daß die Rückeroberung von Paris opferreiche Straßenkämpfe mit sich bringen und zu viel Militär binden würde, und daß die Alliierten dann auch noch für die mehr als problematische Versorgung von vier Millionen Einwohnern von Paris und Umgebung verantwortlich wären. Darum wurden Pläne ausgearbeitet, die Hauptstadt zunächst zu umgehen und zügig in Richtung Nordostfrankreich und Süddeutschland zu marschieren, um dazu beizutragen, den Krieg möglichst bald und möglichst in Berlin zu beenden. Um die deutschen Besatzer von Paris wollte man sich später kümmern.
Von diesen Kalkülen ahnten die Einwohner von Paris nichts. Sie glaubten, daß die Befreier auf schnellstem Wege zu ihnen unterwegs seien. Diese Zuversicht und die Bereitschaft vieler Pariser Bürger, selbst etwas für ihre Befreiung zu tun, nutzten die kommunistischen Führer des illegalen Widerstandsnetzes in Paris, um Mitte August zum Generalstreik und zum Aufstand gegen die Besatzer aufzurufen.
Das erwies sich allerdings als sehr gewagt, denn noch befanden sich 20.000 schwerbewaffnete deutsche Besatzungssoldaten und 40 Panzer in der Stadt. Außerdem hatte Paris seit Anfang August einen neuen Stadtkommandanten. Dietrich von Choltitz war von Hitler zum General der Infanterie ernannt und zum »Kommandierenden General und Wehrmachtbefehlshaber von Groß-Paris« mit dem ausdrücklichen Befehl eingesetzt worden, Paris mit allen Mitteln zu verteidigen und so das Vorrücken der Alliierten aufzuhalten. Wenn überhaupt, dann dürfe die Stadt nur als Trümmerfeld hinterlassen werden.
So brutal und skrupellos, wie von Choltitz zu Beginn des Krieges in Rotterdam gewütet hatte und später in der sowjetischen Hafenstadt Sewastopol am Schwarzen Meer, war sich Hitler sicher, daß der General dafür der richtige Mann sei. Doch dem kamen bald Bedenken. So wie sich der Aufstand ausbreitete und von den Besatzern nicht in den Griff zu bekommen war, brauchte er Verstärkung durch mehr Truppen und Waffen, doch die blieb aus. Außerdem machte der Stadtkommandant einen großen Fehler, indem er seinen Truppen den Befehl erteilte, die Polizei zu entwaffnen. Doch dieser Versuch mißlang und hatte vor allem zur Folge, daß massenweise Polizisten zur Résistance überliefen und diese dadurch auch Nachschub an Waffen bekam.
Für viele Polizisten, die jahrelang den Besatzern hilfreich zur Seite gestanden hatten und für diese beispielsweise Juden aufspürten, verhafteten und ins Lager Drancy brachten, von wo aus sie nach Auschwitz deportiert wurden, war dieser Seitenwechsel eine Chance, sich für die Nachkriegszeit »reinzuwaschen«.
Doch die Widerstandsbewegung war gegenüber den Besatzern noch zu schwach und vor allem unzureichend bewaffnet. Die Polizei nicht mitgerechnet, zählte sie in Paris kaum 2.000 Kämpfer, die nur über knapp 100 Maschinenpistolen, 400 Gewehre, fünf Maschinengewehre und einige Panzerfäuste verfügten. In den verschiedenen Stadtvierteln wurden durch die Widerstandskämpfer Kommissariate und Behörden besetzt, nicht zuletzt um Waffen zu erobern. Autos wurden requiriert, in weißer Schrift mit der Aufschrift FFI für »Forces Françaises de l’Intérieur« versehen und auf Patrouille durch die Stadt geschickt, um Präsenz zu zeigen. Dabei kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit deutschen Soldaten, bei denen es Tote und Verletzte gab.
Der dem Stadtkommandanten von Hitler erteilte Befehl, die Pariser Brücken und wichtige öffentliche Gebäude zu verminen und zur Sprengung vorzubereiten, ließ sich auf Dauer nicht geheim halten. Als der Konsul des neutralen Schweden bei General von Choltitz vorstellig wurde und ihm von den Alliierten ausrichtete, man werde ihn nach Kriegsende als einen der Hautkriegsverbrecher vor Gericht stellen, sollte er Hitlers Befehl ausführen und Paris zerstören lassen, wurde dies vom Stadtkommandanten mit Erleichterung aufgenommen. Von Choltitz hatte schon von sich aus im eigenen Interesse die Vorbereitung der Sprengungen in die Länge gezogen und sich Berlin gegenüber verteidigt, er habe nicht genug Männer und Sprengmaterial.
Jetzt fand sich der General sogar zu Verhandlungen mit der Widerstandsbewegung bereit, um Straßenkämpfe zu vermeiden und den deutschen Truppen einen reibungslosen Abzug zu sichern. So strickte der General bereits an der später in seinen Memoiren verbreiteten Legende, er habe Paris aus Gewissensgründen verschont. Damit hatte er Erfolg, denn er wurde nicht vor Gericht gestellt, saß nur zwei Jahre in Kriegsgefangenschaft und erhielt später sogar von der französischen Regierung den Orden der Ehrenlegion.
Inzwischen hatte der Kommandant des Pariser Résistance-Netzes, der Kommunist Rol-Tanguy, der sich mit seinem Stab in einem Bunker unter einem der Plätze von Paris befand und über das Telefonnetz der Metro in Verbindung mit allen Stadtbezirken stand, einen Boten mit einem Brief zu den weniger als 100 Kilometer vor Paris stehenden alliierten Truppen geschickt. Darin beschwor er sie, so schnell wie möglich nach Paris vorzurücken, um ein Blutbad zu verhindern, da die Widerstandsbewegung zu schwach und unzureichend bewaffnet sei.
Im gleichen Sinne bedrängte auch General de Gaulle den alliierten Oberbefehlshaber General Eisenhower. Er malte taktisch geschickt einen »drohenden kommunistischen Putsch« in Paris an die Wand – den er im Übrigen selbst befürchtete. Immerhin erreichte er damit, daß die alliierten Truppen nun tatsächlich im Eiltempo Kurs auf Paris nahmen. Sie ließen letztlich sogar der französischen 2. Panzerdivision unter General Leclerc den Vorrang, was für General de Gaulle von großer symbolischer Bedeutung war.
Am Abend des 24. August fuhren die ersten drei französischen Panzer in Paris ein, ohne auf Widerstand zu stoßen, und rollten bis zum Platz vor dem Rathaus. Am Morgen folgten das Gros der französischen 2. Panzerdivision und danach die Truppen der US-amerikanischen 4. Infanteriedivision. Sie wurden von der in Massen am Straßenrand stehenden Bevölkerung mit Jubel begrüßt.
Am Nachmittag kapitulierte der deutsche Stadtkommandeur General von Choltitz. Die von ihm handschriftlich abgegebene Erklärung wurde von General Leclerc als Vertreter des Freien Frankreich, aber auch vom Führer des Aufstands, Henri Rol-Tanguy, gegengezeichnet.
Die Kämpfe um die Befreiung der französischen Hauptstadt hatten innerhalb einer Woche auf Seiten der Aufständischen 900 Tote und 1.500 Verwundete und unter der Zivilbevölkerung 580 Tote und 2.000 Verletzte gefordert, während 3.200 deutsche Besatzungssoldaten gefallen sind und 12.800 gefangengenommen wurden.
Am nächsten Tag kam General de Gaulle in Paris an und brachte als erstes Leclerc gegenüber seine Verärgerung zum Ausdruck, daß dieser den Kommunisten Henri Rol-Tanguy in die Kapitulation einbezogen und damit »unnötig aufgewertet« hatte. Am Nachmittag zog General de Gaulle mit den Führern des Widerstandskampfes der Jahre 1941-44 – aber ohne Henri Rol-Tanguy oder einen anderen führenden Kommunisten – unter Jubel über die Champs-Elysées vom Triumphbogen bis zur Place de la Concorde. Dann begab er sich zum Rathaus und hielt dort, auf einem Fenstersims stehend, vor der auf dem Vorplatz versammelten Menge seine berühmt gewordene Rede, in der er die Rolle und den Mut der Aufständischen würdigte und die in den Worten gipfelte: »Das so lange erniedrigte, gebrochene und martyrisierte Paris hat sich durch sein Volk selbst befreit!«
Dabei brachte er es fertig, die anglo-amerikanischen Alliierten, die die weitaus größte Last bei der Befreiung Frankreichs trugen und die den vergleichsweise spärlichen Truppen des Freien Frankreich in Paris den Vortritt gelassen hatten, mit keinem Wort zu erwähnen. Damit zahlte er vor allem den Amerikanern heim, daß sie ihn und den von ihm repräsentierten Widerstand jahrelang unterschätzt und als unbedeutenden Faktor behandelt hatten.
»Während die Landung in der Normandie entscheidend für die Alliierten und vor allem die Amerikaner war, hatte die Befreiung von Paris eine große symbolische Bedeutung für General de Gaulle und seine Visionen einer ebenbürtigen Rolle des Freien Frankreich in der Anti-Hitler-Koalition und bei der Gestaltung des Nachkriegseuropa«, meint der Historiker Henry Rousso. Den USA, die für Frankreich bereits eine eigene Militärbesatzungsbehörde vorbereitet und sogar schon Besatzungsgeld gedruckt hatten, war General de Gaulle, der diese Pläne durchkreuzte, unbequem und suspekt, nicht zuletzt weil er pragmatisch mit den Führern der kommunistischen Widerstandsbewegungen zusammenarbeitete. Doch sie repräsentierten schließlich den übergroßen Teil der Résistance im Lande, und dieser war ein entscheidendes Element der Legitimität des Führers des Freien Frankreich.
Charles de Gaulle war und blieb zeitlebens ein eingefleischter Antikommunist, aber er war realistisch genug, die Rolle der Kommunisten zu würdigen – und gegebenenfalls für seine Zwecke zu nutzen. So nahm er auch Kommunisten in die ab April 1944 in Algier von ihm geführten provisorischen Regierungen auf. Sie blieben im Amt, als Charles de Gaulle 1946 aus Protest gegen die per Referendum angenommene neue Verfassung zurücktrat.
Insgesamt amtierten elf Kommunisten als Minister, angefangen beim Parteivorsitzenden Maurice Thorez. Diese blieben auch unter de Gaulles Nachfolgern im Amt, bis sie im Mai 1947 als eine der Folgen des aufziehenden Kalten Krieges aus der Regierung ausgeschlossen wurden.
Kommunisten, die sich als militärische Führer in der Résistance bewährt hatten, konnten auch mit ihrem dortigen Rang in die nach dem Krieg aufgestellten regulären Streitkräfte übernommen werden. Allerdings wurden dort kommunistische Offiziere als Fremdkörper empfunden und entsprechend behandelt. Diesem Druck haben nur wenige von ihnen bis zum regulären Pensionsalter standgehalten. Die meisten hatten zu diesem Zeitpunkt längst den Dienst quittiert.