Ausland09. Oktober 2009

Das 24. Opfer des »Terror-Managements«

Seit Monaten Selbstmordserie bei France Télécom

Ein 51-jähriger Mann hat sich am Montagmorgen in der Nähe der Alpen-Kleinstadt Alby-sur-Chéran von einer Brücke gestürzt. Im Auto ließ er einen Brief für seine Frau und die zwei Kinder zurück. Er könne nicht mehr, das Klima im Unternehmen habe ihn zermürbt, erklärt er darin seine Tat. Er ist das 24.Opfer einer Selbstmordserie bei France Télécom, die nun schon seit 18 Monaten anhält.

Als am Nachmittag der Télécom-Chef Didier Lombard im Call-Center in Annecy eintraf, wohin das jüngste Opfer kürzlich versetzt wurde – nach fast 30 Jahren als Techniker –, wurde er von vielen Beschäftigten mit Pfiffen und Buh-Rufen empfangen. Die Stimmung im Unternehmen ist gereizt. »Die Selbstmorde sind die Spitze des Eisbergs von Frustration, die große Teile der Belegschaft beherrscht«, schätzt Lucien Hislaire von der CGT ein. »Seit der 1996 eingeleiteten Privatisierung hat sich das Klima bei France Télécom radikal verschlechtert. Der Zusammenhalt unter den Kollegen ist Vergangenheit. Heute kämpft jeder gegen jeden ums Überleben, und das wird von den Chefs bewußt geschürt.«

40.000 Arbeitsplätze abgebaut

Mit dem grünen Licht der Regierung, die nur noch 23% der Anteile hält, will die Unternehmensleitung alles, was an die Zeiten im Öffentlichen Dienst erinnert, ausmerzen. »Jetzt wird ein knallharter Profitkurs gefahren. Das bekommen alle Mitarbeiter täglich zu spüren«, meint Lucien Hislaire. Ende 2008 zählte das Unternehmen 101.000 Mitarbeiter, von denen 65% noch Beamtenstatus haben. In den letzten sechs Jahren wurden 40.000 Arbeitsplätze abgebaut. Die Direktion betont, daß niemand entlassen wurde, doch sie hat subtilere Methoden gefunden.

Mit Hinweis auf die Konkurrenz auf dem Telefoniemarkt und unter der verlogenen Losung »Fortschritt durch Erneuerung« werden die Mitarbeiter systematisch destabilisiert. Von jedem wird nicht nur maximale Produktivität, sondern auch »höchste Flexibilität« gefordert, was in der Praxis bedeutet, daß niemand länger als drei Jahre an seinem gewohnten Arbeitsplatz bleibt, mittlere und höhere Angestellte sogar nur zwei Jahre. Dann werden sie versetzt, in eine andere Abteilung, einen anderen Unternehmensbereich, oft in eine andere Stadt.

Unter neuen Bedingungen müssen sie die sich ständig steigernden Vorgaben erfüllen, um nicht heruntergestuft oder strafversetzt zu werden. »Terror-Management« nennen das die Mitarbeiter bitter. »Besonders die Älteren, die meist noch Beamtenstatus haben, werden gezielt schikaniert«, erläutert Jacques Lemercier von der Gewerkschaft FO. »Beispielsweise werden Techniker, die jahrzehntelang Wissen und Erfahrungen gesammelt haben, in ein Call-Center versetzt und sollen jetzt per Telefon neue Kunden gewinnen.« Er erinnert sich, daß 50 Leute, eine ganze Abteilung, aus Vichy über Nacht nach Clermont-Ferrand versetzt wurden, und knapp zwei Jahre später von dort nach Lyon. »Nach der professionellen Identität verlieren sie auch die geografische – mit allen verheerenden Konsequenzen für die Familien, die das mit sich bringt.«

Unternehmensleitung verhöhnt die Opfer

Nicht selten geht die Rechnung der Chefs auf: die Betroffenen geben früher oder später auf, gehen vorzeitig in den Ruhestand oder nehmen das Angebot der Firma an, sich mit einer finanziellen Beihilfe selbständig zu machen. Nur zu oft fühlen sich aber auch Einzelne so in die Enge getrieben, daß sie keinen Sinn mehr im Weiterleben sehen. Kürzlich hat sich sogar ein Ingenieur in einer Sitzung vor den Augen der Kollegen und Chefs ein Messer in den Leib gerammt, nachdem man ihm die Versetzung auf einen ganz anderen Arbeitsplatz in einer fernen Stadt verkündet hat.

Die Unternehmensleitung spricht in solchen Fällen systematisch von »persönlichen Gründen« oder »gesundheitlichen Problemen« und weist jeden Zusammenhang mit dem Unternehmen und dem vergifteten Firmenklima empört zurück. Konzernchef Lombard hat kürzlich in einem Interview sogar zynisch von einer »Mode« der Selbstmorde gesprochen.

Doch immer mehr Beschäftigte wagen inzwischen, die Mißstände offen anzuprangern. Unter der an Victor Hugo und die Dreyfus-Affäre erinnernden Überschrift »Ich klage an« hat kürzlich ein Télécom-Mitarbeiter einen offenen Brief an Konzernchef Lombard gerichtet, den die Zeitung »L’Humanité« auf der Titelseite veröffentlicht hat.

Die ausführliche Schilderung der inhumanen Zustände bei France Télécom schließt er mit dem Kürzel DYDO 5403 und fügt erläuternd hinzu: »Das ist mein Code in der Firma, denn als Mensch existiere ich hier seit 2002 nicht mehr.«

Angesichts der Serie von Selbstmorden haben Beschäftigte von France Télécom am Dienstag mit einem Streik gegen die Verschärfung der Arbeitsbedingungen protestiert. An dem Ausstand beteiligten sich etwa 40 Prozent der Mitarbeiter.

Ralf Klingsieck, Paris