Ein Land, zwei Systeme
Vor 35 Jahren regelten China und Großbritannien vertraglich die Dekolonisierung Hongkongs
Peking am 19. Dezember 1984: In der Großen Halle des Volkes im Zentrum der chinesischen Hauptstadt dreht sich alles um Hongkong, das Gebiet, das Britannien im 19. Jahrhundert China entrissen und sich als Kronkolonie einverleibt hatte. An einem langen, mit dunklem Stoff bedeckten Tisch sitzt die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Rechts von ihr, getrennt durch einen Aufsteller mit einem britischen und einem chinesischen Fähnchen, hat der chinesische Premierminister Zhao Ziyang Platz genommen. Hinter ihnen stehen Politiker, die der Zeremonie beiwohnen, darunter Deng Xiaoping, der Architekt der chinesischen Öffnungspolitik.
Thatcher und Zhao haben ein Vertragsdokument vor sich, die »Sino-British Joint Declaration on the Question of Hong Kong«. Beide nehmen einen Stift zur die Hand und unterzeichnen das Abkommen. Die »Chinesisch-britische gemeinsame Erklärung zu Hongkong«, die damit besiegelt ist, regelt die Rückgabe der britischen Kronkolonie an China zum 1. Juli 1997. Die Volksrepublik China kommt damit der Vereinigung des traditionell chinesischen Territoriums sowie der Heilung der kolonialen Wunden des Landes ein Stück näher.
Streik niedergeschlagen
Freiwillig hätte das Vereinigte Königreich seine Kronkolonie Hongkong wohl kaum preisgegeben. Die Entkolonialisierung war 1984 schon weit fortgeschritten. 1947 war Indien, 1948 waren Burma (Myanmar) und Sri Lanka in die Unabhängigkeit entlassen worden; es folgten 1951 Libyen, 1956 der Sudan, 1957 Ghana und Malaysia, in den 1960er und 1970er Jahren dann zahlreiche weitere Staaten Afrikas, des Mittleren Ostens, der Pazifikregion und der Karibik. An einigen strategisch besonders wichtigen Kolonien hielt London jedoch fest, etwa an den Chagos-Inseln mitten im Indischen Ozean, die bis heute Britannien unterstehen; eine von ihnen, Diego Garcia, beherbergt einen recht bedeutenden USA-Militärstützpunkt.
Seine Kontrolle über Hongkong hatte das Vereinigte Königreich 1967, als sich ein Streik gegen völlig unzumutbare Arbeitsbedingungen zu einer ausgewachsenen antikolonialen Rebellion ausweitete, noch mit allen Mitteln verteidigt. Die Repressionsorgane schlugen die Erhebung blutig nieder. 51 Menschen starben. Als sich der Pulverdampf gelegt hatte und die Opfer begraben waren, dämmerte es der Kolonialmacht jedoch, daß sie die südchinesische Metropole wie ihre meisten Kolonien wohl nicht auf Dauer würde halten können.
Bei den Überlegungen über die Zukunft Hongkongs, die damals einsetzten, spielte eine Rolle, daß die Kolonie über keine einheitliche Rechtsbasis verfügte. Britannien hatte sich deren Kerngebiet, die Insel Hongkong, im Jahr 1842 nach dem Ersten Opiumkrieg mit dem Vertrag von Nanjing gesichert. Die im Norden angrenzende Halbinsel Kowloon folgte 1860 nach dem Zweiten Opiumkrieg mit der Konvention von Peking.
China war nicht bereit, die beiden ungleichen Verträge von 1842 und 1860 auf Dauer zu akzeptieren, und erkannte ihre Folgen nicht an. Was London als seinen rechtmäßigen Besitz einstufte, wurde von chinesischer Seite stets angefochten. Eindeutig war die Lage hingegen bei den Gebieten nördlich von Kowloon sowie den verschiedenen kleineren und größeren Inseln, die London ergänzend zum 1. Juli 1898 auf 99 Jahre unter dem Namen »New Territories« gepachtet hatte und die 85 Prozent der Fläche der Kronkolonie ausmachten.
Der Pachtvertrag lief zum 1. Juli 1997 aus, und es war völlig klar, daß China ihn nicht verlängern würde. Einfach abzuwarten, was geschehen würde, war keine Option: Vor allem Grundbesitzer und Unternehmer begannen Ende der 1970er Jahre, sich Gedanken zu machen, was in der Zukunft wohl mit ihrem Eigentum geschehen werde. 1979 startete London daher einen Testballon und sandte Hongkongs Gouverneur Murray MacLehose zu Sondierungsgesprächen nach Peking. Im September 1982 traf dann Premierministerin Thatcher zu ersten offiziellen Gesprächen in der chinesischen Hauptstadt ein.
Für Britannien ging es in den Verhandlungen mit der Volksrepublik vor allem darum, möglichst vorteilhafte Konditionen für die Rückgabe der im 19. Jahrhundert abgepreßten Gebiete herauszuschlagen. Zentral war zunächst, daß die Besitzverhältnisse unangetastet blieben. Das lief darauf hinaus, Hongkong als kapitalistisches Einsprengsel in der Volksrepublik zu konstituieren. Günstig für London war dabei, daß die damalige Boomtown China die Möglichkeit bot, sie quasi als Relaisstation für Geschäfte mit dem Westen zu nutzen, und daß man daher von seiten Pekings einem Deal gemäß der Formel »Ein Land, zwei Systeme« nicht abgeneigt war.
Beide Seiten einigten sich schließlich darauf, Hongkong zum 1. Juli 1997 wieder in den chinesischen Staat einzugliedern, allerdings nicht als gewöhnliches Gebiet, sondern als »Sonderverwaltungszone«, die direkt der Regierung in Peking unterstünde und ein hohes Maß an Autonomie behalten sollte – abgesehen von der Außen- und der Verteidigungspolitik. Die Besitzverhältnisse, die Gesetze, die politische und wirtschaftliche Verfaßtheit der Kolonie – all dies solle für einen Zeitraum von 50 Jahren, also bis zum 1. Juli 2047, im wesentlichen beibehalten werden. London hatte damit deutlich mehr Zugeständnisse erreicht als bei den Verhandlungen über die Herausgabe anderer Kolonien.
Alte Probleme
Die Regelungen, die mit der gemeinsamen Erklärung in Kraft gesetzt wurden, haben sich ökonomisch als durchaus erfolgreich erwiesen: Hongkong hat seine Rolle als Schnittstelle zwischen der chinesischen und der westlichen Wirtschaft wie gewünscht ausgefüllt und tut das bis heute. Allerdings weisen Beobachter immer wieder darauf hin, daß die Erklärung, wenn man so will, die Entkolonialisierung, die sie eigentlich regeln sollte, in gewisser Weise verhindert: Schließlich garantiert sie mindestens bis 2047 den Fortbestand des alten politökonomischen Systems, das die britische Kolonialmacht dem Gebiet oktroyierte.
Gezeigt hat sich das, als Hongkongs Regierung in diesem Jahr versuchte, die Überstellung von Straftätern in die Volksrepublik, nach Taiwan und nach Macao, die in den von der gemeinsamen Erklärung garantierten Normen nicht vorgesehen ist, gesetzlich zu regeln.
Die Proteste, die sich dagegen erhoben, dauern an. Das Scheitern des Bemühens um ein neues Auslieferungsgesetz hat nicht nur zur Folge, daß kürzlich ein geständiger Mörder freigelassen werden mußte, weil er nicht nach Taiwan überstellt werden kann. Es führt auch dazu, daß Millionäre, die ihr Geld korrupten Geschäften auf dem Festland verdanken, in Hongkong Straflosigkeit genießen.
Jörg Kronauer
Deng Xiaoping im Gespräch mit Margaret Thatcher vor Unterzeichnung der Sino-British Joint Declaration (19. Dezember 1984)