Ausland11. März 2021

»Eure Konflikte haben mit uns nichts zu tun!«

Untätige Politiker spielen im Libanon mit dem Feuer. Armeechef warnt vor mehr Instabilität

von Karin Leukefeld

Die Nerven der Libanesen liegen blank. Das Libanesische Pfund hat weiter an Wert verloren, das Coronavirus zwingt das Leben zum Stillstand, die Wirtschaftskrise verschärft sich täglich. Eine neue Regierung ist nicht in Sicht. Der Chef der Libanesischen Armee warnte die Politiker, den Bogen nicht zu überspannen.

Der Zorn der Bevölkerung über den wirtschaftlichen Absturz des Landes treibt viele Menschen auf die Straßen. In Tripoli bauten Demonstranten eine Mauer quer über die Straße, in Sidon versammelten sich Menschen allen Alters, Frauen, Schüler und Schülerinnen und Arbeiter, um gegen den die Tatenlosigkeit der politischen Eliten zu protestieren.

In Beirut rief die Kommunistische Partei am Wochenende zu einem Sit-In auf und warnte davor, die Protestbewegung für irgendein politisches Lager instrumentalisieren zu wollen. »Die Parteien an der Macht streiten über die Regierung, Quotenregelung und darüber, wer die Entscheidungshoheit hat. Derweil bezahlt das Volk den Preis«, hieß es in dem Aufruf. »Eure Konflikte haben mit uns nichts zu tun, auch Eure Regierungen nicht! Nieder mit dem sektiererischen politischen System, nieder mit der Macht des Kapitals.«

Währung erreicht
neuen Tiefstand

Wütende Demonstranten blockieren zentrale Verbindungsrouten mit brennenden Autoreifen, Müll und Schrott. Internationale Medien, die sich nur selten für das alltägliche Elend der Bevölkerung interessieren, liefern dramatische Fotos. So zeigte ein AFP-Foto eine junge Frau vor schwarzem Rauch und fliegenden Funken, wie sie mit wehenden Locken, ganz in schwarz mit modernem schulterfreiem T-Shirt gekleidet, mit einer libanesischen Fahne als Maske vor dem Gesicht eine Hand zur Faust geballt hat. Sie stehe »neben brennenden Autoreifen, die eine Straße im Zentrum der Hauptstadt Beirut am späten Abend des 2. März 2021 blockieren«, so die Bildunterschrift. Der Protest richte sich »gegen die schlechter werdenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen« im Land. Das Libanesische Pfund hatte an diesem Tag mit einem Schwarzmarktwert von 10.000 zu einem US-Dollar den bisherigen Tiefststand erreicht.

Armeechef
warnt Politiker

Viele Stimmen warnen vor Gewalt, die Sorge vor einem Bürgerkrieg wächst. Die Straßenblockaden behindern die nicht nur Handel und Personenverkehr im Land, sondern auch die Versorgung von Krankenhäusern und Apotheken. Präsident Michel Aoun sprach in einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates am Montag von »Sabotage«. Die Blockade von Straßen gehe über die Meinungsäußerung hinaus und müsse von Armee und Sicherheitskräften entschlossen geräumt werden.

Der Chef der Libanesischen Armee, General Joseph Aoun – nicht verwandt und nicht verschwägert mit dem gleichnamigen Präsidenten – wies die Aufforderung zurück. Soldaten und Offiziere litten genauso wie alle anderen unter der Wirtschaftskrise. »Ich frage die Offiziellen, wohin gehen Sie? Worauf warten Sie?« Was planen sie zu tun, um endlich langfristige Lösungen zu finden, mit denen der finanzielle Absturz des Landes gestoppt werden könne. Es sei nicht Aufgabe der Armee, sich in den politischen Konflikt einzumischen.

Keine Regierung,
keine Finanzhilfen

Der designierte Ministerpräsident Rafik Hariri hatte im Oktober 2020 eine 18-köpfige Kabinettsliste vorgelegt, für die Präsident Michel Aoun Änderungen vorgeschlagen hatte. Hariri weigerte sich, andere Parteien erhoben ebenfalls Ansprüche auf Ministerposten. Aktuell wird laut libanesischen Medien um den Posten des Innenministers gestritten. Die Hisbollah hat bei Vermittlungen hinter verschlossenen Türen Vorschläge nach dem Motto »Keine Gewinner, keine Verlierer« gemacht, um beiden Seiten zu ermöglichen, das Gesicht zu wahren.

Eine neue Regierung soll – wie schon die vorherige Regierung unter Hassan Diab – aus unabhängigen Experten bestehen und zentrale Reformen umsetzen. Nur dann werden ausländische Finanzhilfen in Höhe von 11 Milliarden US-Dollar und weitere 10 Milliarden US-Dollar vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgezahlt. Das Geld wird den Libanon zwar in neue Abhängigkeiten verwickeln, ist aber aktuell nötig, um das Land zumindest wirtschaftlich zu stabilisieren und der Bevölkerung ein Durchatmen zu ermöglichen.

Eskalierende Inflation

Mehr als die Hälfte der 6 Millionen Libanesen können angesichts der eskalierenden Inflation die hohen Preise für Lebensmittel, Benzin, Mieten, Medikamente nicht mehr bezahlen. Händler horten zudem Lebensmittel, die zu extrem hohen Preisen an die Bevölkerung verkauft werden. Die Zentralbank hat angekündigt, die Subventionen von Grundnahrungsmitteln, Strom und Benzin nach und nach einzustellen. Finanzhilfen für die ärmsten Familien, die die Weltbank in Aussicht gestellt hat, sollen nach dem Ende der Subventionen monatlich 50 US-Dollar für Erwachsene und 25 US-Dollar für Kinder betragen. Die Sorge, daß diese Gelder in irgendwelchen Taschen verschwinden könnten, ist angesichts der bereits bestehenden Korruption berechtigt.

Als kürzlich die Weltbank 34 Millionen US-Dollar für den Kauf von Impfstoff gegen das Coronavirus für zwei Millionen Menschen zur Verfügung stellte, drängelten sich Präsident Aoun, einige Politiker und Abgeordnete in der Reihe der Wartenden vor. Die Empörung war groß, zumal das Verhalten das Abkommen verletzte, mit dem das Geld für den Impfstoff zur Verfügung gestellt worden war.

Die Wirtschaftskrise im Libanon begann im Herbst 2019 und wurde durch die Coronapandemie und die Explosion im Hafen von Beirut 2020 weiter verschärft. Das Bruttoinlandsprodukt im Libanon ist im vergangenen Jahr um nahezu 20 Prozent zurückgegangen.