Leitartikel15. Dezember 2021

Die Krise der vielen Gesichter

von

Die weltweite Gesundheitskrise zeigt schonungslos die Mißstände unserer Gesellschaft. Sei es ein unterbezahlter Gesundheitssektor, der im Falle von Luxemburg auch noch hoffnungslos vom Ausland abhängig ist, die Abhängigkeit von »Märkten« bei der Beschaffung von Impfstoff, deren Entwicklung öffentlich finanziert wurde oder wenn es um die Ausgesetztheit der Beschäftigten geht, denen alles andere verboten wird, außer der Präsenz am Arbeitsplatz.

Was letzteren betrifft, fällt insbesondere die Trägheit oder besser die Weigerung auf, endlich modernere Methoden und Strukturen zuzulassen. Unsere Arbeitszeiten und die daraus resultierende alltägliche Banalisierung der Bedürfnisse des Individuums nach freier Entfaltung, ohne daß der Lohnerwerbszwang es völlig niederdrückt, sind völlig antiquiert und auch wenn immer wieder, mit Unterstützung neoliberaler Massenmedien dem einzelnen Beschäftigten suggeriert wird, Arbeitszeitverkürzung sei etwas schlechtes, haben viele bereits mitbekommen, daß es nicht weitergehen kann, wie bisher.

Auch in Luxemburg ist die 40-Stundenwoche als Errungenschaft immer noch der letzte Stand. Während die technologische Entwicklung und damit die Produktivität drastisch gestiegen sind, blieb von diesem Fortschritt zu wenig übrig, wenn es um die Weiterentwicklung der Arbeitswelt ging. Das Selbstverständnis, selbst beim ärmsten Prekariat, daß der Zweck des Daseins fremdbestimmte Arbeit ist, um seine Familie ernähren zu können und eventuell noch irgendwie an Konsumtrends teilzunehmen, ist weitgehend zementiert.

Dabei ist klar, daß die an sich schon überholte 40-Stundenwoche vielerorts nur noch auf dem Papier existiert. Flexibilisierung, legale und illegale Überstunden sorgen dafür, daß wir langsam aber sicher wieder zu Arbeitszeiten zurückkehren, die sich mit denen vor dem letzten Weltkrieg messen lassen können. Dabei sind Arbeitszeitverlängerungen eine Gefahr. Sie verschärfen soziale Ungleichheiten und beeinträchtigen Familien- und Privatleben erheblich. Auch das oft gefeierte Ehrenamt leidet. Viele Sportvereine können mittlerweile ein Lied davon singen. Dies hat auch gesundheitliche Folgen beim Einzelnen zur Folge. Während die Unternehmen sich die Mehrprofite in die Taschen stecken, muß die Allgemeinheit die Kosten für den gesundheitlichen Preis bezahlen.

Die Diskussion einer Arbeitszeitverkürzung und eine Abkehr vom heiligen Präsentismus aus den Jahrhunderten muß endlich auf deutlich höherer Flamme gekocht werden. Dabei muß nicht nur den Unternehmen und deren Vertretern in der Regierung klar gemacht werden, daß die Gesellschaft auf dem Spiel steht für kurz- bis mittelfristige Profite, sondern auch Beschäftigten, die den Märchen von der leidenden Wettbewerbsfähigkeit immer noch Glauben schenken. Es ist mittlerweile vielfach wissenschaftlich belegt worden, daß kürzere Wochenarbeitszeiten und eine bessere Work-Life-Balance deutliche motiviertere Angestellte schafft.