Ausland24. Oktober 2023

Kolonialmacht geblieben

Madagaskar: Frankreich hält strategisch wichtige Inseln im Indischen Ozean seit Jahrzehnten besetzt

von Jörg Kronauer

Man kennt die Geschichte: Da erhebt ein Staat Anspruch auf kleine, unbewohnte Inseln, errichtet gar eine Militärpräsenz darauf – und das, obwohl andere, deutlich nähergelegene Länder beteuern, die Inseln gehörten eigentlich ihnen. Landraub – wie empörend! Es geht wohl um China und um die vielen kleinen Inseln im Südchinesischen Meer, um die sich Peking seit Jahren mit einigen anderen Anrainerstaaten streitet? Aber nein: Es geht um die kleinen, kaum bekannten Îles Éparses, mit vollem Namen: Îles Éparses de l'océan Indien, »Verstreute Inseln im Indischen Ozean«, die unmittelbar bei Madagaskar liegen. Madagaskar erhebt Anspruch auf sie, doch nicht China, sondern Frankreich hält sie besetzt.

Die fünf kleinen Inseln westlich (Île Europa, Bassas da India, Juan de Nova), nördlich (Les Glorieuses) und östlich (Tromelin) von Madagaskar, die unbewohnt sind und zusammen kaum mehr als 50 Quadratkilometer umfassen, haben eine wechselvolle Geschichte durchlebt. Im 16. Jahrhundert stießen portugiesische Seefahrer bei ihren Kolonialfahrten auf sie; daher die portugiesischen Namen, die einige Inseln tragen. Als sich 1897 Frankreich das Königreich Madagaskar als Kolonie unterwarf, gerieten auch die Îles Éparses unter französische Kontrolle. Eigentlich hätten sie mit Madagaskar am 26. Juni 1960 in die Unabhängigkeit entlassen werden sollen. Am 1. April 1960 unterstellte Präsident Charles de Gaulle sie jedoch per Dekret der französischen Regierung. Daß das illegal war, störte Paris nicht.

Denn so unscheinbar die Inseln auch wirken: Ihre geostrategische Bedeutung ist hoch. Vor allem erlauben sie es, eine gewisse Kontrolle über die Straße von Mosambik auszuüben. Durch diese wichtige Passage zwischen Madagaskar und dem afrikanischen Festland werden zum Beispiel rund 30 Prozent des weltweit über See transportierten Erdöls mit Tankschiffen befördert. Die hohe strategische Bedeutung dieses Seewegs hat dazu geführt, daß Frankreich sogar Soldaten auf den Îles Éparses stationiert hat. Madagaskar versucht seit 1973, die Inseln zurückzuerhalten, und kann sich seit 1979 auf eine Resolution der Generalversammlung der UNO stützen, die Paris zum baldigen Abzug auffordert. Der wäre nicht nur prinzipiell wünschenswert – zwecks weiterer Entkolonialisierung –, sondern für Madagaskar auch praktisch nützlich: Das Meeresgebiet rings um die Inseln beherbergt Erdgasvorräte, die mit denjenigen der Nordsee verglichen werden. Die Gasförderung böte Madagaskar einen Weg aus seiner drückenden Armut.

2019 ist es der madagassischen Regierung gelungen, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zu Verhandlungen über die Inseln zu nötigen. Sie scheiterten faktisch: Macron sitzt die Sache bis heute erfolgreich aus. Darin schließt er sich Britannien an, das nicht nur von der Generalversammlung der UNO, sondern auch von zwei Gerichtshöfen der UNO aufgefordert wurde, die Chagos-Inseln mitten im Indischen Ozean an Mauritius zurückzugeben, die es bis heute als Kolonien hält. Es verweigert ihre Rückgabe, da die USA auf einer von ihnen, auf Diego Garcia, einen strategisch ideal gelegenen Militärstützpunkt unterhalten.

Und Deutschland? Wie eine Antwort der Regierung auf eine parlamentarische Frage von Sevim Dagdelen, der Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuß des Bundestags, zeigt, ist die BRD nicht bereit, Madagaskar bei der Entkolonialisierung seiner Inseln zu unterstützen. Dabei mischt sich Berlin, wenn es gegen strategische Rivalen geht, stets gern in Inselstreitigkeiten ein – siehe Südchinesisches Meer; und nein, China ist dort keine Kolonialmacht.

»Es zeugt von der Doppelmoral der Bundesregierung, daß sie sich im Streit um die willkürlich und völkerrechtswidrig von Madagaskar abgetrennten Îles Éparses faktisch an die Seite der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich stellt«, kommentiert Dagdelen vergangene Woche gegenüber der deutschen Tageszeitung »junge Welt«. Und weiter: »Anstatt wie schon im Fall der völkerrechtswidrig von den USA und Britannien besetzten Chagos-Inseln den geopolitischen Interessen ihrer NATO-Partner Vorrang vor dem Völkerrecht einzuräumen, sollte die Bundesregierung – auch im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit – gegenüber Frankreich auf die Dekolonisierung und Rückgabe der Îles Éparses an Madagaskar gemäß den Resolutionen der UNO-Generalversammlung pochen.«