Ausland10. Juni 2023

Das ist keine Übung!

Mit »Air Defender 2023« probt die NATO den dritten Weltkrieg. Sicherheitsmaßnahmen außer Kraft gesetzt

von Vincent Cziesla

Der Luftraum über Osteuropa ist umkämpft. Deutschland wurde von einem anderen Staat angegriffen. Der Beistands-Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages wurde aktiviert. Innerhalb kürzester Zeit werden hunderte Kampfjets aus den USA und aus anderen NATO-Staaten nach Deutschland verlegt, um von hier aus Richtung Rußland zu fliegen. Auch die atomwaffenfähigen F-35-Tarnkappenflugzeuge werden für den Einsatz vorbereitet – die ersten Stunden eines großen Krieges sind angebrochen.

Dieses Szenario bildet die Grundlage für das Manöver »Air Defender 2023«, das vom 12. bis zum 23. Juni stattfindet. Dabei wird der Luftkrieg gegen einen imaginären Feind, der selbst über eine potente Luftwaffe verfügt, simuliert. Wer damit gemeint ist, kann schnell erraten werden. Die Manöverleitung mag sich in ihrer öffentlichen Kommunikation noch zurückhaltend geben, doch Michael A. Loh, Generalleutnant und Direktor der US Air National Guard, machte seine Motivation schon vor einiger Zeit deutlich. Im Jahr 2021 wünschte er sich mit Blick auf »Air Defender«, daß seine Leute »mehr über unsere drohenden Gefahren – China und Rußland« nachdenken.

Das Manöver wird nach dem Prinzip »Train as you fight« durchgezogen. Einsatzgebiete, Taktiken, Logistik – alles soll so realistisch wie möglich sein. Daß Deutschland zur zentralen Drehscheibe der Übung wird ist daher kein Zufall. Auch im Ernstfall würden unzählige NATO-Jets von deutschen Flugplätzen starten und ausschwärmen. Ebenso realitätsnah sind die Flugrouten, die die Kampfflugzeuge testen werden. Sie führen von der westlichen Grenze, also unmittelbar in der Nähe Luxemburgs in der Eifel, bis an die Ostgrenzen des NATO-Gebietes, bis an die russische und die ukrainische Grenze.

Was auf den ersten Blick wie eine dreiste, aber übliche Provokation wirkt, ist in Kriegszeiten eine handfeste Gefahr für den Weltfrieden. Ein Unfall mit russischen Militärmaschinen, eine fehlgeleitete Navigation oder ein Pilotenirrtum können ausreichen, um einen Übungsflug wie einen Angriffsakt erscheinen zu lassen. Besonders bedrohlich wird es, wenn die Ukraine den Windschatten des Manövers nutzen sollte, um Angriffe durchzuführen, während die russische Luftüberwachung gezwungen ist, die NATO-Aktivitäten zu verfolgen. Derzeit kommt es fast täglich zum Beschuß russischen Territoriums, penetrant droht der ukrainische Präsident mit größeren Attacken. Das Eskalationspotential eines ukrainischen Militärschlages, während in der Nähe NATO-Jets patrouillieren, liegt in dieser Situation auf der Hand.

Die deutsche Bundesregierung ist nicht nur bereit, diese enormen Risiken in Kauf zu nehmen, sie setzt sogar die gängigen Sicherheitsmaßnahmen aus. Russische Beobachter, die sich versichern könnten, daß die Übung nicht zur Vorbereitung eines Angriffs genutzt wird, sind nicht zugelassen. Noch nicht einmal eine formale Ankündigung soll es geben. »Wir werden ihnen keinen Brief schreiben. Sie werden die Nachricht schon verstehen, wenn unsere Flugzeuge ausschwärmen«, antwortete der oberste deutsche Luftwaffengeneral Ingo Gerhartz Anfang April auf die Frage, wie Rußland informiert wird.

Diese Abkehr von der Rückversicherungspolitik wird begleitet von einem Kampf gegen die Diplomatie. In der vergangenen Woche untersagte die Bundesrepublik der Russischen Föderation den Betrieb von vier Konsulaten. Kurz vor dem Manöver werden die Beziehungen dadurch weiter belastet und wichtige Kommunikationskanäle sabotiert. Die deutsche Bundesregierung tut anscheinend alles dafür, die Eskalation voranzutreiben und die Gefahr zu erhöhen, daß die Übung zum bitteren Ernstfall werden könnte.