Ausland14. September 2024

Beuteverteilung in Kiew und Berliner PR

Selenski feuert Minister und läßt Moskau angreifen

von Arnold Schölzel

Ungefähr die Hälfte seines Kabinetts hat der ukrainische Präsident Wladimir Selenski in der vergangenen Woche gefeuert. Am Dienstag beleuchtete die »Neue Zürcher Zeitung« (NZZ) – von der der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt einst meinte, sie sei weitaus besser informiert als der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) – das Umfeld des früheren Komikers und kam zu dem Schluß: Selenski stärkt seine Macht und die seiner »intransparenten Berater«.

Deren Zahl beträgt offiziell neun, laut »NZZ« kommen aber »mehrere Dutzend« ohne offiziellen Status hinzu. Viele von ihnen seien »ideologisch wendige Figuren«, die sich »in der Kiewer Politik- und PR-Blase schon mehrfach neu erfunden« hätten. Ihr Lebenszweck: Sie sorgen insbesondere bei den Paten des Selenski-Regimes dafür, »daß der Präsident präsent und der internationale Druck auf die Unterstützer der Ukraine hoch bleibt«.

Die mächtigste Figur sei der Chef des Präsidentenbüros, Andrej Jermak, der Selenski seit 2011 kennt und wie dieser als Film- und TV-Produzent gearbeitet habe.

Dann kommt die Schweizer Zeitung zum Kern, dem Wirtschaftlichen: Aus der »Machtballung« sei eine »Grauzone« entstanden. Konkret: Seit 2022 wurde »eine Reihe von kriegswichtigen Industriegiganten dem Verteidigungsministerium unterstellt und quasi verstaatlicht«. Besitzverhältnisse unterliegen seitdem dem Militärgeheimnis, gegen frühere Eigentümer gingen Geheimdienst und Justiz vor.

Der »NZZ«-Schlüsselsatz: »Das läßt den Verdacht aufkommen, daß in Kiew durch eine selektive Anwendung des Gesetzes Vermögenswerte neu verteilt werden.« Vor allem Jermak nehme Einfluß auf Gerichtsprozesse und behindere die Korruptionsbekämpfung.

Es ging demnach beim Ministerrauswurf weniger um Posten als um Pfründe, das heißt Beuteverteilung. Wie lange sich Selenskis Sponsoren das noch bieten lassen wollen, ist offen. Die Kiewer haben zudem Vorbilder: Erst in der vergangenen Woche ging die »NZZ« auf Suche nach den Quellen, aus denen der frühere afghanische Abgeordnete Ajmal Rahmani seine Millionen Euro oder Dollar hat. Er kauft nämlich in Süddeutschland im großen Stil Immobilien auf. Auf seinen Konten landete offenbar einiges von den Milliarden, die der Westen im 20-jährigen Afghanistankrieg seinen korrupten Marionetten in Kabul zukommen ließ.

Zur Kiewer PR-Blase gehört auch der Bandera-Verehrer und Rabaukendiplomat Andrej Melnik, einst Botschafter in Berlin, jetzt in Brasilien. Der Mann, der sich einst als Besatzer in Deutschland aufführte, sprach am Samstag salbungsvoll in der »Berliner Zeitung«: »Ganz persönlich glaube ich, daß Bundeskanzler Olaf Scholz kreativ werden und die bestehenden diplomatischen Kanäle Deutschlands nutzen könnte, um auszuloten, ob Gespräche mit Putin sinnvoll wären.« Das deutete darauf hin, daß ein Ende des Beutemachens in Kiew in Sicht ist. Olaf Scholz, ein mindestens so erfahrener Kanalarbeiter wie Melnik, warf den Ball sofort in die Berliner PR-Blase und verkündete im ZDF-Sommerinterview am Sonntag: »Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muß, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen.«

Vermutlich wußte er da schon, daß Selenski für die Nacht zum Dienstag den bisher größten Angriff mit Drohnen auf Moskau angeordnet hatte. So etwas wie von Robert Fico, dem im Mai bei einem Attentat angeschossenen Regierungschef der Slowakei, ist im offiziellen Berlin auf keinen Fall zu hören: »Wir reden alle über Faschismus, Nationalsozialismus, während wir stillschweigend tolerieren, daß Einheiten durch die Ukraine ziehen, die ein klares Etikett haben und mit Bewegungen verbunden sind, die wir heute für gefährlich und verboten halten. Da es sich um einen geopolitischen Kampf handelt, kümmert es niemanden.«

Fico sagte das am Montag beim Besuch des Holocaust-Museums in der westslowakischen Stadt Sered und erklärte, Antifaschismus müsse das Rückgrat staatlicher Bildung bleiben. Prognose: Wird erst einem sozialistischen deutschen Bundeskanzler über die Lippen kommen.