Syrien – Zwischen Tod, Zerstörung, Aufteilung und Wirtschaftsboom
Wie das Leid der Alawiten im Nordwesten Syriens nach den Massakern Anfang März aus den Schlagzeilen der Weltpresse verschwand, so ist zwei Wochen nach der Gewalt an der Bevölkerung Suweidas auch deren Schicksal aus den Medien verschwunden. Familien und Freunde suchen nach Lebenszeichen ihrer Angehörigen und Nachbarn, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sein mögen, als das Morden und die Zerstörung in Suweida ihren Lauf nahm.
In einem regelmäßigen Sicherheitsbericht für private Hilfsorganisationen werden Schicksale beschrieben, die nirgends eine Schlagzeile erreichen. Berichtet wird von anhaltenden Entführungen in den Provinzen Latakia, Tartus, Homs und Hama. Strom fehlt überall, oft auch Wasser. Das ganze Land sei nicht sicher, man solle sich stets mit anderen bewegen, wird geraten. Die Tür solle man auch Uniformierten nicht öffnen, wenn man sie nicht kenne. Es wird zu einem persönlichen Sicherheitskreis geraten, bestehend aus Nachbarn und Angehörigen, die man kenne. Schulen, Kirchen, Moschen und Kindergärten sollten geschützt werden, es gebe »viele schlechte Personen, die sich frei in der syrischen Gesellschaft bewegen«.
Der Autor des Berichts verweist auf die allgemeinen Alltagsprobleme von Kollegen, Freunden, Familienangehörigen und Nachbarn, die man nicht immer sehe. Er selbst habe Personen getroffen, die den Anschlag auf die Kirche in Dweila überlebt, aber das Grauen noch nicht verarbeitet hätten. Eine junge Frau habe gerade geheiratet und er habe gefragt, ob sie glücklich sei, nach der täglichen Arbeit jetzt für ihren Mann kochen zu können. Sie habe geantwortet, daß sie gar nicht koche, weil sie alles Geld sparen müßten, um Töpfe und Pfannen kaufen zu können. Eine Nachbarin sei mit Zwillingen schwanger gewesen und habe im fünften Monat beide Kinder verloren. Eine andere Nachbarin sei von ihrem Ehemann verlassen worden, der eine jüngere Frau geheiratet habe. Wieder eine andere Frau versuche seit Tagen, notwendige Medikamente zu ihrem Vater nach Suweida zu bringen, doch die Straßen seien gesperrt und ein Nachbar habe ihm berichtet, seine Frau sei nach Suweida gefahren, um ihre Eltern zu besuchen und könne seit zwei Wochen nicht zurück, er sei mit den Kindern in Damaskus allein und alle machten sich große Sorgen.
Am Dienstag berichtete das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), daß ein Konvoi mit Hilfsgütern nach tagelangem Warten die Erlaubnis erhalten habe, nach Suweida zu fahren. Ein Team werde dortbleiben, um die Hilfe weiter zu koordinieren, erklärte Stephan Sakalian, Leiter der IKRK-Delegation in Syrien. Sowohl im Krankenhaus von Suweida als auch in dem von Shahba seien IKRK-Mitarbeiter während der Gewalt geblieben, um Ärzten und Klinikpersonal und dem Personal des Syrischen Roten Halbmonds (SARC) zu helfen. In fünf Sammelunterkünften habe man 1.250 Personen registriert, die vor der Gewalt geflohen seien und Hilfe benötigten. Man habe die Bäckereien mit Mehl versorgt und im Krankenhaus von Suweida Hygieneartikel, Matratzen, Decken und Lebensmittel verteilt. Inlandsvertriebene würden auch in der benachbarten Provinz Deraa versorgt.
Die »Königsmacher« der islamistischen Übergangsführung von Ahmed al-Sharaa in den USA und deren Partner in Europa und am Arabischen Golf sind schon lange zur Routine übergegangen: in Paris verhandelt Israel mit Syrien über die »Normalisierung« der Beziehungen und die Entwaffnung. Anschließend wird über die Aufteilung des Landes – die sogenannte Föderation – gesprochen. Deutschland fördert die Ausbildung von Ärzten und Journalisten und selbst mit Moskau verhandeln die Islamisten über die jeweiligen Interessen.
Ein Blick auf die Wirtschaftsmeldungen syrischer Medien zeigt, daß beide Seiten nach einem saudisch-syrischen Wirtschaftsforum eine Vereinbarung über künftige bilaterale Zusammenarbeit im Stromsektor unterzeichnet haben. Es geht um erneuerbare Energie, den Anschluß Syriens an ein regionales Stromnetz, die Zusammenarbeit im Öl- und Gassektor sowie bei anderen petrochemischen Produkten. Ausbildung und Technologietransfer sollen gefördert werden. Einzelheiten sind nicht bekannt.
Um Energie geht es auch zwischen Aserbeidschan und Syrien, teilte das Energieministerium mit. 3,4 Millionen Kubikmeter Gas sollen demnach ab August aus Aserbeidschan über die Türkei in die nordsyrische Provinz Aleppo geliefert werden. Damit soll das dortige Stromwerk beliefert werden, das über ein weites Netz Strom für die große Provinz bis nach Hama liefern kann. Während des Krieges waren alle sechs Turbinen zerstört worden, die in den letzten Jahren – aufgrund der westlichen Sanktionen – per Handarbeit mit Unterstützung iranischer Ingenieure restauriert worden waren. Nun wird nicht nur das Kraftwerk von Saudi-Arabien und Katar rehabilitiert, das Gas aus Aserbeidschan wird für ein Jahr von der katarischen Stiftung für Entwicklung QFFD finanziert. Damit steigt laut der Erklärung der finanzielle Zuschuß Katars für den syrischen Energiesektor auf mehr als 760 Millionen US-Dollar.
Möglich geworden sind die Investitionen reicher Golfstaaten in den Wiederaufbau des syrischen Energiesektors, weil EU und USA die harten Sanktionen aufgehoben haben. Die haben zusammen mit dem Krieg die zivile Energieinfrastruktur zerstört. Die Öl- und Gasvorkommen des Landes werden seit 2014 von den USA und kurdischen Milizen kontrolliert.
Mit Machtübernahme der islamistischen Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) unter Führung von Ahmed al-Sharaa, auch bekannt als Abu Mohamed al Jolani, Gründer und Führer der Al-Qaida-nahen Nusra Front, beeilten sich politische Führer aus EU, USA und den arabischen Golfstaaten die islamistische Übergangsführung von Al Sharaa zu unterstützten. Es geht um große Geschäfte, die Geld und Einfluß versprechen in einer Region, die im Umbruch ist.
USA-Präsident Donald Trump hob im Mai die einseitigen »Caesar«-Sanktionen gegen Syrien auf, um den Golfstaaten mehr Einfluß beim Wiederaufbau und der Kontrolle Syriens einzuräumen. Gleichzeitig war die Entscheidung ein Affront gegen Israel, dessen Premier Netanjahu Washington ausdrücklich aufgefordert hatte, die Sanktionen gegen Syrien beizubehalten.
In den USA scheint sich nun eine Front gegen Trumps Entscheidung aufzubauen, berichtete die Nachrichteagentur AFP. Der Finanzausschuß des Repräsentantenhauses hat demnach einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Sanktionen gegen Syrien mit 31 Ja- zu 23 Nein-Stimmen verabschiedet. Damit soll dem Präsidenten die Befugnis entzogen werden, den »Caesar Act« von 2019 ohne Begründung aufzuheben. Eine mögliche Aufhebung der Sanktionen wird gleichzeitig an strenge Bedingungen geknüpft.
Die Gesetzesvorlage stellt die diplomatischen Aktivitäten Washingtons in der Region in Frage. Washington hat seinen Botschafter in der Türkei, Tom Barrack, zum Sonderbeauftragten auch für Syrien ernannt. Ende Mai hisste er in der USA-Botschaft in Damaskus wieder die Flagge seines Landes. Zu Barracks Aktivitäten gehörten in der jüngsten Vergangenheit die Förderung von Gesprächen zwischen Syrien und Aserbeidschan, Syrien und Israel, auch ein Treffen zwischen Syrien, Irak und der Türkei in der USA-Botschaft in Istanbul ist vorgesehen. Mit der Lockerung der Sanktionen gegen Syrien gehen auch die Aussetzung direkter Sanktionen gegen Al Sharaa und andere Mitglieder der islamistischen Übergangsführung in Damaskus einher, die wegen ihrer Terroraktivitäten in der Nusra Front persönlich und mit ihrem Vermögen auf internationalen Sanktionslisten stehen.
Die islamistische Übergangsführung von Al Sharaa kommt jeder Anforderung ihrer »Königsmacher« entgegen. Wird ein Untersuchungsbericht über die Massaker gegen die Alawiten oder in Suweida gefordert, setzt Al Sharaa eine Kommission ein. Wird eine Einigung mit den Kurden im Nordosten gefordert, unterzeichnet er ein Abkommen mit ihnen. Wird von Israel die Entwaffnung der Armee und Entmilitarisierung der südlichen Provinzen gefordert – und teilweise auf die israelische Art mit Luftangriffen unterstrichen – sagt Al Sharaa das zu. Eine Verfassung wurde gefordert, Al Sharaa legte eine vor. Wahlen werden gefordert, Al Sharaa kündigt Wahlen für September an. Ob den Islamisten das nutzt, ihre Macht zu behaupten, bleibt abzuwarten.
Die USA-Manöver in der Region sollen die unterschiedlichen Interessen derjenigen ausbalancieren, die den USA und ihren Partnern geholfen haben, den »Regime Change« in Syrien zu vollbringen. Riad und Ankara sollen ebenso belohnt werden, wie Aserbeidschan und Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Und auch die Europäer können auf die eine oder andere Medaille hoffen. Alle aber müssen sich den USA und den Interessen Israels unterordnen. Das ist die »rote Linie«.