Ausland28. Oktober 2020

Erdogan fürchtet um Einfluß auf Frankreichs Muslime

Frankreich ist ein Hindernis für türkisches Vormachtstreben

Mit seinen Ausfällen gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan nicht nur den auf dieser Ebene üblichen diplomatischen Ton verletzt, sondern elementare Regeln des menschlichen Zusammenlebens. Auf Macrons Worte bei der Gedenkfeier für den ermordeten Lehrer Samuel Paty, Frankreich halte am Prinzip der Meinungsfreiheit fest und das gelte auch für Mohammed-Karrikaturen, hat Erdogan reagiert, indem er auf Massenmeetings wiederholt Macron aufgefordert hat, seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Außerdem hat Erdogan die Boykottaufrufe in Staaten des Nahen und Mittleren Osten aufgegriffen und seine Landsleute aufgefordert, keine französischen Importgüter zu kaufen.

Andererseits hat sich die Türkei erst mit mehr als einer Woche Verspätung offiziell von dem islamistischen Mordanschlag distanziert. Auf die jüngsten Beleidigungen durch Erdogan hat Frankreich mit dem Abzug seines Botschafters reagiert. Damit haben die Beziehungen zwischen beiden Ländern einen neuen Tiefpunkt erreicht. In letzter Zeit hat es besonders viele französisch-türkische Konfliktthemen gegeben. So kam es im Juni fast zu einem militärischen Zusammenstoß zwischen den beiden NATO-Mitgliedsländern, als eine französische Fregatte vor der libyschen Küste einen von türkischen Kriegsschiffen begleiteten Frachter kontrollieren wollte, bei dem der Verdacht bestand, daß mit ihm das internationale Waffenembargo durchbrochen werden sollte.

Seit Juli hat Frankreich wiederholt dagegen prote­stiert, daß die Türkei in von ihr unrechtmäßig beanspruchten Gewässern vor der Küste Griechenlands und Zyperns nach Erdgasvorkommen sucht und diese völkerrechtswidrigen Akte durch Kriegsschiffe absichert. Ebenso hat Frankreich scharf darauf reagiert, daß die Türkei im aktuellen Krieg um Berg-Karabach Aserbaidschan mit Waffen, Drohnen und Militärberatern unterstützt. Dafür wurden sogar syrische Islamisten aus dem Krieg gegen die Assad-Regierung, die sich in die Türkei geflüchtet hatten, als Söldner geworben und an die Front im Kaukasus geflogen.

Auf all diese Stellungnahmen hat Erdogan immer wieder mit wütenden Beleidigungen an die Adresse von Macron geantwortet und ihn beschuldigt, Großmachtambitionen im Mittelmeerraum zu verfolgen. Dabei ist es vor allem Erdogan, der seit Jahren mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln versucht, eine Einflußzone rund um das Mittelmeer zu schaffen, die an das mit dem ersten Weltkrieg verlorene Osmanische Reich erinnert und die Türken wieder »mit Stolz erfüllen« soll.

Mit seinen Ausfällen gegen Frankreich, aber auch gegen andere EU-Länder, ja sogar gegen die USA, weil die den Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems kritisiert haben, will Erdogan offensichtlich von der desaströsen Lebenslage und wirtschaftlichen Entwicklung im eigenen Land ablenken. Dabei stützt er sich vor allem auf die erzkonservativen und streng religiösen Kreise in der Bevölkerung.

In diesem Geist profiliert er sich als selbsternannter Schutzherr aller unterdrückten Muslime weltweit und vor allem in Europa. In Frankreich, wo das Gesetz von 1905 über die strikte Trennung von Kirche und Staat keine öffentliche Hilfe des französischen Staates für Glaubensgemeinschaften erlaubt, nutzt die Türkei diese Lücke seit Jahren aus, indem sie den Bau von Moscheen finanziert und für ihren Betrieb türkische Imame delegiert und bezahlt. Die machen heute die Hälfte der 300 ausländischen Imame in Frankreich aus und haben großen Einfluß auf einen nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung – und nicht nur in Fragen des Glaubens.
Das droht verloren zu gehen, wenn – wie von Macron angekündigt – der Laizismus durch ein neues Gesetz gestärkt werden soll, ferner Imame künftig an den französischen Universitäten ausbildet werden und die Finanzierung des Baus von Moscheen per Gesetz transparent gemacht sowie streng reglementiert und kontrolliert wird.

Ralf Klingsieck, Paris

Erdogan spricht am Mittwoch zur Fraktion seiner Partei im türkischen Parlament in Ankara (Foto: Adem ALTAN/AFP)