Wahlen neuen Stils in Syrien
Teile des Landes ausgeschlossen – Rückkehr stockt
In Syrien bereitet sich die selbst ernannte »Interimsregierung« auf Wahlen zum Parlament vor. Nach Angaben der Obersten Nationalen Wahlkommission sollen die Wahlen für das Syrische Parlament vom 15. bis 20. September stattfinden. Tatsächlich wird nicht gewählt, sondern es werden Abgeordnete ausgewählt, wie den Angaben der Obersten Wahlkommission zu entnehmen ist. Der selbst ernannte »Interimspräsident« Ahmed al Sharaa wird 70 der insgesamt 210 Abgeordneten ernennen. Die anderen 140 werden lokal und regional von einer Art »Wahlmännergremien« ausgewählt, die wiederum von der »Interimsregierung« ernannt werden.
Das Syrische Parlament war Anfang Dezember 2024, nach der Machtübernahme der islamistischen »Hayat Tahir al Sham«, der »Allianz zur Befreiung der Levante«, unter Führung von Ahmed al Sharaa, ehemals bekannt als Führer der Al Qaida-nahen Nusra-Front in Syrien Abu Mohammed al Jolani, aufgelöst worden. Alle Parteien wurden verboten.
Ende Januar 2025 war Al Sharaa bei einem »Treffen einflußreicher politischer und militärischer Funktionäre« zum »Interimspräsidenten« ernannt worden. Ende Februar 2025 fand eine »Konferenz des Nationalen Dialogs« statt. Mitte März 2025 unterzeichnete Al Sharaa eine »Interimsverfassung«, die von einem Komitee von »Fachkräften« (Juristen) ausgearbeitet worden war. Sie soll fünf Jahre gelten. Ende Juli 2025 kündigte die Nationale Wahlkommission Parlamentswahlen für den September 2023 an.
Indirekte Wahlen
Die neuen Parlamentsabgeordneten werden nicht von den wahlberechtigten syrischen Bürgerinnen und Bürgern in einer Wahl mit Wahlkabinen und Stimmzetteln gewählt. Schon in der »Interimsverfassung« war festgelegt worden, daß die 210 Personen, die ins Parlament einziehen, ernannt werden sollen. Al Sharaa wird demnach 70 Personen ernennen, die anderen 140 werden von lokalen Gremien von Wahlleuten ins neue Parlament entsandt.
Im Juni 2025 war per Dekret des Präsidenten – gemäß der »Interimsverfassung« – ein zehnköpfiges Komitee (manche Quellen sprechen von 11 Komitee-Mitgliedern) eingesetzt worden, um die lokalen Gremien von Wahlleuten zu kontrollieren. Diese bestehen aus 30 – 50 Fachleuten, Akademikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Ihre Aufgabe besteht darin, Kandidaten zu nominieren, die Wahlprogramme aufstellen sollen, die sie bei öffentlichen Debatten vortragen sollen. Die Wahlleute werden aus den Kandidaten dann 140 auswählen, die ins Parlament einziehen sollen.
Die Entscheidung für solche »indirekten Wahlen« beruhe auf der weiterhin unübersichtlichen Situation in Syrien, erklärte ein Beobachter in Damaskus im Gespräch mit Journalisten. Es handle sich um eine »pragmatische Entscheidung«, Al Sharaa wolle »die Kontrolle behalten«.
Nach mehr als einem Jahrzehnt des Krieges sei die syrische Bevölkerung innerhalb und außerhalb des Landes verstreut, so Omar Al Hariri, ein unabhängiger Journalist in Damaskus. Es gebe »keine aktuelle Volkszählung, kein vollständiges Melderegister, und Millionen Menschen verfügen nach wie vor nicht über ordnungsgemäße Ausweispapiere«. Logistisch sei es »nahezu unmöglich«, ordentliche Wahlen durchzuführen. Al Sharaa reagiere mit den Wahlen auf »interne und externe Anforderungen«. Um den »externen Anforderungen« zu genügen, sollen ausländische Wahlbeobachter den Wahlvorgang beobachten können. Es werde »vollständige Wahltransparenz« geben, wird versprochen, und die Ergebnisse seien »von der Regierung besser vorhersehbar zu gestalten«.
Keine Wahlen in Sweida, Rakka und Al Haskeh
Ursprünglich sollten in allen 14 Provinzen Syriens Kandidaten ausgewählt werden. Inzwischen wurde bekannt, daß in mindestens drei Gebieten die Wahlen »aus Sicherheitsgründen« verschoben werden. Betroffen sind die Provinzen Sweida, die von Milizen der Drusen kontrolliert werden, Raqqa und Al Hasakeh, die von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) kontrolliert werden.
Unklar ist, ob in den Küstengebieten von Latakia, Banias und Tartus Kandidaten für das Parlament ausgewählt werden. Erst vor wenigen Tagen haben »Sicherheitskräfte« der syrischen »Interimsregierung« mehrere Menschen in dem mehrheitlich von syrischen Alawiten und Christen bewohnten Gebiet getötet. Sie sollen »Terrorzellen« angehört haben, so die »Kräfte der syrischen Allgemeinen Sicherheit«, die dem »Innenministerium« unterstehen. In Damaskus wurden Hunderte Alawiten aus ihren Wohnungen im Stadtteil Sumariya – unweit des gleichnamigen Busbahnhofs – im Westen der Stadt vertrieben.
Unwahrscheinlich, daß Syrer zurückkehren.
Nur wenige Tage vor den Wahlen hat das deutsche Innenministerium Zahlen über die Rückkehr der Syrer veröffentlicht, die in Deutschland während des Syrienkrieges (2012 – anhaltend) Schutz gesucht hatten.
955.000 Syrer leben in Deutschland, berichtet die Deutsche Presseagentur. Bis Ende August sind lediglich 1.867 Personen mit staatlicher Förderung nach Syrien ausgereist. Ende Mai hatte die Zahl bei 804 Personen gelegen. Es dürfte verschiedene Gründe für die geringe Rückkehrwilligkeit unter den Syrern in Deutschland geben. 83.000 Syrer erhielten im vergangenen Jahr 2024 einen Paß und damit die deutsche Staatsangehörigkeit, was ihnen neue Wege öffnen wird. Die Einbürgerung bedeutet, daß man über gute deutsche Sprachkenntnisse verfügen muß und seinen eigenen Lebensunterhalt verdient.
Ältere Syrer werden von ihren Kindern, die in Deutschland aufgewachsen sind, die in deutschen Schulen, Betrieben oder an den Universitäten ausgebildet werden, von der Rückreise abgehalten. Nicht nur, daß die staatlichen Schulen und Universitäten in Syrien nur noch ein Schatten ihrer selbst sind, private Bildung können sich nur die wenigsten leisten. Zudem findet im Syrien eine Islamisierung statt, mit der säkular und fortschrittlich ausgerichtete syrische Muslime nicht einverstanden sein dürften. Islamische Kleiderordnung, Sharia-Tests oder Anweisungen für die richtige Art zu beten, sind den meisten Syrern fremd.
Letztlich sind 1.000 Euro Rückreisegeld pro Person, maximal 4.000 Euro pro Familie viel zu wenig, um im Syrien von heute einen Neuanfang zu wagen. Auch die Zusage des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), nach Rückkehr bis zu 2.000 Euro Kosten für medizinische Behandlung zu übernehmen bedeutet keine Sicherheit. Ohne ein sicheres Dach über dem Kopf, ohne Arbeit, ohne Grundversorgung wie Strom und Wasser wird kein verantwortlicher Familienvater seine Familie nach Syrien zurückbringen.
Den offiziell ausgereisten 1.967 Syrern steht die Zahl von 17.650 Syrern gegenüber, die seit Januar 2025 – also nach der Machtübernahme der Islamisten in Damaskus – in Deutschland eingereist sind und einen Asylantrag gestellt haben. Aktuell warten 53.187 Syrer darauf, in Deutschland als Flüchtling anerkannt zu werden.