Vor 80 Jahren
Sieg in Dien Bien Phu
Seit dem 13. März 1954 tobte in Dien Bien Phu die letzte Schlacht im achtjährigen Befreiungskampf Vietnams gegen Frankreich, das seine in der Augustrevolution 1945 gestürzte Kolonialmacht wieder errichten wollte. Dien Bien Phu lag in einem Talkessel von etwa 18 Kilometer Länge und acht Kilometer Breite und war von steil aufragenden über 1.500 Meter hohen Bergen umgeben. Der französische Oberkommandierende in Vietnam, General de Corps d‘Armée, Henri Navarre, hatte den Talkessel zu einer waffenstarrenden Dschungelfestung samt Militärflugplatz mit mehreren Landebahnen ausbauen lassen.
Seine Kommandozentrale war von einem Gürtel mit auf sechs Hügeln liegenden selbständigen Stützpunkten umgeben. Im Vorfeld der Festung befanden sich vier Außenforts. Alle trugen französische Mädchennamen. Die Festungsbesatzung zählte vier Infanterieregimenter, 100 gepanzerte Fahrzeuge, insgesamt 16.000 Mann. Es waren durchweg kriegserfahrene Kolonialbataillone, darunter fast die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division »Charlemagne« oder der »Légion des volontaires français contre le Bolchevisme« (LVF) angehört hatten.
Während der Schlacht wurde die Besatzung durch 170 Kampfflugzeuge unterstützt, die mit Napalm, Bomben und Bordwaffen die Stellungen der Vietnamesischen Volksarmee angriffen. Kommandant der Festung war der Oberst der Panzertruppen mit dem langen Namen Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries. Wie Navarre auch er ein kolonialkriegserfahrener Kommandeur.
Navarre wollte die Volksarmee zu verlustreichen Angriffen auf die Festung provozieren, um sie dann vor deren Toren in einer Feldschlacht zu vernichten. Der Plan ignorierte völlig die gewachsene Kampfkraft der Volksarmee. Der vietnamesische Oberkommandirende, General Vo Nguyen Giap, verfügte vor Den Bien Phu über schwere Artillerie, Feldhaubitzen und Kanonen, moderne Flak und rückstoßfreie Geschütze. Die Vietnamesen transportierten die schweren Haubitzen – jede wog über zwei Tonnen – in Einzelteile zerlegt ohne Zugmittel über die zerklüfteten Berge und brachten sie gegenüber der Festung in Höhlen in Stellung.
Zum Angriff auf die Festung traten zwei Infanteriedivision, drei selbständige Regimenter, zwei Abteilungen 10,5 Zentimeter Haubitzen und zwei weitere Artillerie-Abteilungen, dazu ein Flak- und ein Pionierregiment insgesamt zirka 35.000 Mann an. Bei der Versorgung unterstützten Zehntausende Helfer der Bevölkerung die Truppen. Nach Beginn des Angriffs am 13. März nahm die Volksarmee binnen einer Woche alle vier Außenforts und den ersten der sechs zentralen Stützpunkte ein.
Am 19. März schickte Kriegsminister René Pleven den Chef des Generalstabes, Paul Ely, nach Washington, um eine »entscheidende Aufstockung« der Hilfe aus den USA auszuhandeln. »Wir werden Dien Bien Phu verlieren und ganz Indochina, wenn die Amerikaner nicht eingreifen«. Frankreich benötige »Infanterie, Artillerie, Fallschirmtruppen, B-29-Bomber. Einschließlich der Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete«, so Minister Pleven.
USA-Präsident Eisenhower teilte Ely mit, daß C-119 der Air Force Napalm auf die Belagerer von Dien Bien Phu abwerfen werden. Jede Maschine transportierte etwa sechs Tonnen. Außerdem sollten B-26-Bomber mit USA-Piloten über Dien Bien Phu ihre Angriffe verstärken. Die Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub würden »bis zu der von unseren französischen Verbündeten gewünschten Grenze« erhöht. Eine Entsendung von Truppen war nicht vorgesehen.
Zum Abwurf von Atombomben, zu dem unter der Codebezeichnung »Volture«, eine »Geier« genannte Planung lief, hatte Eisenhower vorher mitteilen lassen, daß Paris dazu einen Antrag stellen müsse. Eisenhower war sich im Klaren, daß die Niederlage Frankreichs nicht mehr abzuwenden war und dachte im Stillen, sollen die Franzosen sich in Indochina ruhig verschleißen. Vietnam würde dann zu einer leichten Beute der USA werden.
Denn in Dien Bien Phu waren inzwischen alle Stützpunkte bis auf »Huguette« mit dem Flugplatz gefallen. Seine Einnahme war nur noch eine Frage von Tagen. Landungen waren dann nicht mehr möglich und der Abwurf von Lastenfallschirmen immer riskanter, denn die vietnamesische Flak beherrschte inzwischen den ganzen Talkessel. Schneller als in Washington erwartet übermittelte die französische Regierung Eisenhower ihre Bitte, unverzüglich die Operation »Geier« auszulösen. Die USA mußten nun Farbe bekennen und schoben den britischen Premier Churchill vor, der zustimmen müsse. Der sprach sich jedoch dagegen aus. Der tiefere Hintergrund war, daß Washington das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes für Frankreich nicht eingehen wollte. Die Gegenschlagkapazitäten der UdSSR sorgten dafür, daß Eisenhower schließlich nicht zustimmte.
Erbitterte Nahkämpfe um jeden Bunker
Schilderungen, die Festung sei General Giap nach Monate andauernder Belagerung »wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen«, entsprechen keineswegs der Realität. Vor den letzten Befestigungen mußten die Angreifer drei bis fünf Kilometer Gelände zu überwinden. General Giap wandte nun klassische Methoden des Stellungskriegs aus dem Ersten Weltkrieg in Frankreich an. In Laufgräben arbeiteten die Vietnamesen sich unter dem Feuer der Artillerie und der Infanteriewaffen des Gegners Meter um Meter vor.
Über Megaphone forderten die Vietnamesen die Kolonialsoldaten, unter ihnen viele Fremdenlegionäre algerischer und marokkanischer Herkunft, zur Kapitulation auf. Obwohl Gefangenen der Status der Genfer Konvention nicht zustand, da Frankreich die Vietnamesische Volksarmee nicht als kriegführende Seite anerkannt hatte, wurde allen Angehörigen der Kolonialarmee zugesichert, sie als Gefangene gemäß der Genfer Konvention zu behandeln und sie nach dem Ende der Kämpfe in ihre Heimat zu entlassen. Doch nur 140 Kolonialsoldaten folgten bis Ende April den Aufrufen.
Die französische Gräuelpropaganda, die Viet Minh mache keine Gefangenen, trug Früchte. Die meisten Kolonialsoldaten setzen sich verbissen zur Wehr. Bei der Eroberung der einzelnen Stellungen kam es zu erbitterten, auch für die Volksarmee verlustreichen Nahkämpfen.
Seit Anfang April konnten keine Transportflugzeuge mehr in Dien Bien Phu landen. Viele der mit Nachschubcontainern anfliegenden Maschinen, meist US-amerikanische B 26, wurden abgeschossen oder zum Abdrehen gezwungen. Insgesamt zerstörte die vietnamesische Flak in der Luft oder Artillerie auf den Pisten 62 Flugzeuge völlig und beschädigte 167.
In der Festung gingen die Artilleriegranaten zur Neige, den verbliebenen Panzern fehlte der Treibstoff, die Verpflegung wurde knapp, es fehlten Verbandsmaterial, Morphium, Antibiotika. Von noch rund 10.000 Soldaten war noch knapp die Hälfte kampffähig, die anderen verwundet.
Beförderung vor der Kapitulation
Wie Hitler, der Generaloberst Paulus vor der Kapitulation in Stalingrad zum Generalfeldmarschall beförderte, verfiel man auch in Paris auf die Idee, Oberst de Castries zum Brigadegeneral zu befördern. Er und seine Besatzung wurden in einem Tagesbefehl als »leuchtende Beispiele der Verteidigung der Ehre Frankreichs« bezeichnet.
Am 1. Mai nahm die Vietnamesische Volksarmee die letzten Stellungen ein. Navarre hat den Kommandanten wissen lassen: »Ein französischer Offizier ergibt sich diesen Kerlen nicht, er hört schlimmsten Falls auf zu kämpfen.« Am 7. Mai übermittelte General de Castries an die noch über Funk zu erreichenden Einheiten, die Waffen unbrauchbar zu machen und keinen Widerstand mehr zu leisten. Das Wort Kapitulation fiel nicht, aber alle verstanden, was gemeint war.
Über den letzten Stellungen erschienen weiße Fähnchen. Dann stürmten Giaps Soldaten, ohne noch auf Widerstand zu stoßen, zum Bunker de Castries vor. Ein vietnamesischer Zugführer nahm ihn mit seinen Offizieren gefangen. Auf dem Bunker wurde die rote Fahne mit dem Goldenen Stern aufgezogen. Ein Offizier des Sanitätswesens der Volksarmee forderte Oberstabsarzt Grauwin und sein Personal auf, ihre Arbeit fortzusetzen. Sie erhielten Verbandszeug, Medikamente und alles Erforderliche.
Die Niederlage in Dien Bien Phu läutete das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam und in ganz Indochina ein. Auf französischer Seite kostete sie in Dien Bien Phu noch einmal etwa 2.200 Tote, auf vietnamesischer Seite rund 8.000. Insgesamt fielen während des Kolonialkrieges schätzungsweise 92.000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der vietnamesischen Marionettenarmee mitgerechnet, 466.172 Mann. Auf vietnamesischer Seite kamen über 800.000 Menschen um, ein großer Teil Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen.
Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte General Giap gegenüber »Le Monde«: »Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und ihre schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten.«