Ausland02. Oktober 2021

Schwierige Beziehungen

Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan trafen sich in Sotschi. Keine Fortschritte in Syrien

von Karin Leukefeld

Bei einem mehrstündigen Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch in Sotschi haben die beiden Staatschefs ihren Willen zur weiteren Zusammenarbeit ihrer beiden Länder bekräftigt. Eine gemeinsame Abschlußerklärung gab es nicht. Präsidentensprecher Dmitri Peskow sprach von der »umfangreichsten Tagesordnung«, seit die bilateralen Beziehungen zwischen Rußland und der Türkei begonnen hätten.

Energiewirtschaft und internationale Politik

Im Mittelpunkt der Gespräche standen laut Peskow die Energiewirtschaft und internationale Politik. Wirtschaftlich ging es um die für die Türkei wichtige Lieferung russischen Gases durch das Pipeline Projekt TurkStream, das die bisherigen Lieferungen durch die Pipeline Blue Stream deutlich erhöhen soll. Beide Pipelines verlaufen durch das Schwarze Meer in die Türkei. Anfang 2020 war ein erster Abschnitt mit Gaslieferungen nach Griechenland und Nordmazedonien eröffnet worden. Neben dem Ausbau der Gaslieferungen aus Rußland ging es auch um den gemeinsamen Bau des Atomkraftwerkes Akkuyu. Die 20 Milliarden US-Dollar teure Anlage wird seit 2018 an der Mittelmeerküste bei Mersin errichtet. Erdogan wies darauf hin, daß ein erster Reaktorblock bereits im Jahr 2022 in Betrieb genommen werden könnte.

Politisch ging es um die Kontrolle des Waffenstillstandes in Nagorni-Karabach durch Rußland und die Türkei nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan (Juli-September 2020). Putin bezeichnete die Kooperation beider Staaten in dem Gebiet als »starke Garantie« für Stabilität.

Zentrales Thema war allerdings die weiterhin ungeklärte Lage in Libyen und in Syrien. Das letzte direkte Treffen der beiden Politiker hatte im März 2020 stattgefunden, bevor die restriktiven Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie persönliche Treffen von Politikern weltweit zum Erliegen gebracht hatten.

Erdogan im Dilemma

Während Putin – nach der eingestanden Niederlage von USA und NATO in Afghanistan und der Erweiterung der Schanghai-Koordination um den Iran als Vollmitglied – politisch gestärkt auftreten kann, befindet sich Erdogan in einem politischen Dilemma. Seine neo-osmanischen Pläne, türkischen Einfluß und Kontrolle über das Mittelmeer hinaus in Libyen und auch im Nachbarland Syrien auszuweiten, sind in einer Sackgasse gelandet. Das gleiche gilt für den Balanceakt Erdogans zwischen der NATO und Rußland. Türkische Anfragen nach der Lieferung zusätzlicher russischer S-400 Luftabwehr-Raketen blieben offenbar ohne positive Reaktion von russischer Seite.

Daß es nach dem auffällig kurzen Treffen von 2 Stunden 45 Minuten nicht, wie sonst üblich, eine gemeinsame Erklärung vor der Presse gab, wurde von Beobachtern wie dem türkischen Journalisten Fehim Tastekin dahingehend gedeutet, daß Erdogan ohne Garantieerklärungen Rußlands wieder nach Ankara zurückkehren mußte.

Erdogan hatte zuletzt bei der UNO-Generalversammlung in New York versucht, sich dem neuen USA-Präsidenten Joe Biden anzunähern, war aber weder zu einem Fototermin noch zu einem Treffen mit Biden eingeladen worden. Türkische Drohnenlieferungen an Polen und an die Ukraine, die Verurteilung der Annexion der Krim durch Rußland und das Angebot, nach dem Abzug von USA und NATO aus Afghanistan die Sicherheit am Flughafen von Kabul zu übernehmen, waren in Moskau kaum auf Zustimmung gestoßen. Trotz Lächelns und netter Worte gegenüber dem türkischen Staatschef wirkte Putin eher zurückhaltend.

Rußland und die Kurden

Andere Stimmen deuten die Situation allerdings so, daß möglicherweise auch die Übereinstimmung der beiden Präsidenten so groß sein könnte, daß sie Details ihrer Kooperation beispielsweise in Syrien den bilateralen Arbeitsgruppen überlassen könnten. Diese russisch-türkischen Gespräche auf technischer Ebene werden fortgesetzt. Das ist besonders wichtig für die ungelöste Lage in Idlib im Nordwesten Syriens sowie für den Nordosten des Landes.

Rußland versucht der Türkei entgegenzukommen, in der Region zu deeskalieren und Aktivitäten der kurdischen Volksverteidigungskräfte im nördlichen Umland von Aleppo, in Manbij und Tell Rifaat einzudämmen. Die beiden Orte liegen nordöstlich und nördlich von Aleppo und sind für die Versorgung der von der Türkei unterstützten Dschihadisten von strategischer Bedeutung. Angriffe der kurdischen Volksverteidigungseinheiten hatten in diesen Gebieten zuletzt zugenommen. Das könnte für Erdogan der Grund sein, warum er seinen Teil der Vereinbarungen in Idlib nicht umsetzt. Rußlands Zugang zu den Kurden ist allerdings dadurch eingeschränkt, daß diese mit den USA-Truppen kooperieren. Die USA wiederum halten ohne ein Mandat durch den UNO-Sicherheitsrat die syrischen Ölfelder und weite Teile nordöstlich des Euphrat besetzt.

Die Türkei und Terrororganisation HTS

Die Türkei wiederum hat ihre Anfang 2020 im Rahmen eines Waffenstillstands gemachten Zusagen für die Deeskalationszone Idlib nicht eingehalten. Den Dschihadisten um die Terrororganisation Hayat Tahrir al-Scham (HTS) hat Ankara mehr Spielraum gelassen, statt sie zur Aufgabe zu zwingen. Die vereinbarte Öffnung der Autobahn M4, die die Hafenstadt Latakia mit Aleppo verbindet, wurde ebenfalls nicht eingehalten. HTS-Leute und andere Dschihadisten nutzen türkische Militärposten in Idlib als Deckung, um Angriffe auf das von der syrischen Armee kontrollierte Territorium zu starten.

Inzwischen bereitet die syrische Armee eine neue Offensive vor. Unterstützung gibt es durch russische Luftangriffe. Seit Anfang September bombardieren russische Kampfflugzeuge Ausbildungs- und Waffenlager der HTS südwestlich der Provinzhauptstadt Idlib. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte am Rande der UNO-Generalversammlung in New York erklärt, Rußland werde Terrorangriffe aus Idlib nicht tolerieren.

Erdogan innenpolitisch unter Druck

Erdogan ist zusätzlich innenpolitisch unter Druck, seitdem bekannt wurde, daß fünf hochrangige Generäle der türkischen Armee, die in Syrien stationiert sind, ihren Rücktritt eingereicht haben. Zwei der Generäle wurden nach Angaben des türkischen Kriegsministeriums auf eigenen Wunsch in den Ruhestand entlassen. Allerdings wird der Wunsch von Generälen um Versetzung oder Entlassung in den Ruhestand in der Türkei als Zeichen verstanden, daß man mit den Vorgesetzten oder der Regierungspolitik, der man zu dienen hat, nicht übereinstimmt.

Verfassungskomitee trifft sich im Oktober in Minibesetzung

Der UNO-Sonderbeauftragte für Syrien, der norwegische Diplomat Geir Pedersen, teilte derweil bei einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrates am Mittwoch mit, daß es im Oktober in Genf mit Gesprächen zwischen ausgewählten Vertretern der syrischen Opposition und der syrischen Regierung über die Ausarbeitung einer neuen syrischen Verfassung weitergehen soll. Drei Einladungen seien ausgesprochen worden, um sich am 18. Oktober in Genf zu treffen, sagte Pedersen. Am 17. Oktober werde es zudem ein vorbereitendes Gespräch zwischen Pedersen und den beiden Ko-Vorsitzenden des Verhandlungsgremiums geben.

Er erwarte, daß das Verfassungskomitee nun »ernsthaft mit der Ausarbeitung einer Verfassung« beginnen werde, sagte Pedersen. Über einen »echten inner-syrischen politischen Dialog« hätten auch die Präsidenten Putin und Assad bei ihrem Treffen Mitte September in Moskau gesprochen.