»Nix wie hemm«
Vor 75 Jahren stimmte die Mehrheit der Saarländer für die »Heimkehr« – nach Nazideutschland
Am 30. Januar 1933 hatte die Mehrheit der Deutschen eine Regierung bekommen, die von ihr nicht gewählt worden war. Zu keinem Zeitpunkt besaß nämlich die von Hitler geführte Koalition von »Nationalsozialisten« und Deutschnationalen eine absolute Mehrheit der Stimmen, die bei den Wahlen im Jahr vorher abgegeben worden waren. Die Majorität der Deutschen konnte 1945 mithin sagen, sie habe diesen Führer nicht zum Reichskanzler gewählt – hätte dem aber hinzufügen müssen, sie sei, als der an die Staatsspitze gelangt war, rasch zu ihm übergelaufen, wodurch dem Regime die Massenbasis für seine Innen- und Außenpolitik erst geschaffen worden war.
Für eine Minderheit von Deutschen jedoch galt, daß sie sich diesen Hitler wirklich mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt hatten. Das geschah 1935 und unter besonderen geschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen. Aber es geschah, und zur Enttäuschung vieler, von denen manche sich wohl des Sprichworts erinnert haben mochten: »Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.« Die Rede ist von der Abstimmung im Saargebiet, die am 13. Januar 1935 stattfand und bei der neun von zehn Abstimmenden sich für die »Heimkehr ins Reich« aussprachen, in das unter dem Hakenkreuz.
Die Denkwürdigkeit des Ereignisses ist vielschichtig. Das »Dritte Reich« feierte an diesem Tage seinen ersten außenpolitischen Erfolg, der ihm zudem wie eine reife Frucht zufiel. Seine Gegner erlitten eine Niederlage, wiewohl sie sich, anders als in den Kämpfen des Jahres 1932 im Reich, zu gemeinsamem antifaschistischen Handeln entschlossen hatten. Aufs Ganze gesehen aber steht es für einen Vorgang – freilich einen von vielen, der bezeugt, daß und wie Menschen in eine Situation geraten, ihre eigenen Grundinte-ressen zu verkennen und dahin gebracht werden, gegen sie zu handeln. Und dies in folgenschwerer und unwiderruflicher Weise.
Drei Optionen
Das Ereignis an der Saar hatten die Siegermächte des Weltkriegs im Nachkriegsprogramm europäischer Politik, im Versailler Vertrag, vorbestimmt. Fünfzehn Jahre nach dem Inkrafttreten dieses Vertrages sollten die Bewohner dieses Landesteils zwischen drei Möglichkeiten seiner Zukunft wählen können. Die bestimmte der Text so: »Beibehaltung der durch den gegenwärtigen Vertrag geschaffenen Rechtsordnung oder Vereinigung mit Frankreich oder Vereinigung mit Deutschland«. Schwer denkbar, daß, als dies 1919 formuliert wurde, einer der Autoren sich vorzustellen vermochte, wie dieses Deutschland eineinhalb Jahrzehnte später am Abstimmungstag aussehen würde. Und ebenso schwer denkbar, daß einer von ihnen am Ausgang des Votums ernstlich gezweifelt haben könnte.
Anders als die ihnen benachbarten Lothringer und Elsässer waren die Deutschen an der Saar nie Bürger eines französischen Staates gewesen. Und sie, die Bewohner des hier als »Saarbecken« bezeichneten Territoriums, wurden das auch durch ihre Lostrennung vom Reich nicht. Sie behielten dessen Staatsbürgerschaft, wenngleich sie nun in einem eigenen, besonderen Territorium lebten.
Das hatte es so bis dahin nicht gegeben. Die einen waren 1871 Bürger des bayerischen, die anderen des preußischen Teilstaates im Deutschen Reich geworden. Nun gelangten sie ohne ihre Befragung in das Saarbeckengebiet, das alsbald verkürzt Saargebiet hieß. Seine Konstruktion begründete der Vertrag so: »Als ›Ersatz‹ für die Zerstörung der Kohlengruben in Nordfrankreich und als Anzahlung auf die von Deutschland geschuldete völlige Wiedergutmachung der Kriegsschäden tritt Deutschland das volle und unbeschränkte, völlig schulden- und lastenfreie Eigentum an den Kohlegruben im Saarbecken (…) mit dem ausschließlichen Ausbeutungsrecht an Frankreich ab.« Es verstand sich, daß das entschädigungslos geschah. Sofern sich die Einrichtungen des Bergbaus nicht in Staats-, sondern in Privathand befunden hatten, war das Deutsche Reich für eventuelle Entschädigung der Eigentümer zuständig.
Damit legte der Sieger seine Hand auf den Reichtum des Territoriums, jedoch ohne es seinem Staatsgebiet einzuverleiben. Dessen Regierung übernahm ein vom Völkerbund bestimmter Ausschuß, der unter der Bezeichnung »Treuhänder« agierte. In den Vertragstext waren Bestimmungen eingebaut, die sicherten, daß die Einheimischen, insbesondere die Bergarbeiterschaft, nicht sofort in Opposition gebracht oder zu passivem Widerstand herausgefordert wurde. Den Bewohnern wurden bürgerlich-parlamentarische Freiheiten gewährt. Sie behielten oder gründeten ihre Parteien, Organisationen und Vereine. Frankreichs Politiker, die faktischen Herren der Szene, konzentrierten sich auf die wirtschaftliche Verwertung ihrer Siegesbeute und nahmen sich gar nicht erst vor, die Französisierung der Einheimischen zu versuchen.
Ungleicher Kampf
Als im Reich die Faschisten an die Staatsmacht kamen, erhielt das Saargebiet eine neue Funktion. Es wurde Zufluchtsort für politische Emigranten und unter rassistischen Vorwänden verfolgte Juden sowie Basis, von der aus versucht wurde, antifaschistisch über die Grenze nach Deutschland zu wirken. Vor allem aber wurde es nun ein – und dies umso mehr, je näher der Termin der Abstimmung rückte – Objekt der Begierde der neuen politischen Herren des Reiches im Verbund mit den einstigen großkapitalistischen Eigentümern der Kohlegruben.
1934 entwickelte sich ein ungleicher Kampf zwischen Verfechtern und Gegnern des als »Heimkehr« bezeichneten Anschlusses an Deutschland. Auf der einen Seite operierten die Nazis gemeinsam mit allen deutschnationalen Kräften und einer bunten Schar von Unterstützern, unter denen die Kirchenführer besonderen Einfluß besaßen, materiell und propagandistisch unterstützt aus dem Reich. Ihnen widersetzten sich Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche, darunter auch kirchlich geprägte Kleingruppen, die mit Hilfe von Kräften der Emigration dem Werben um ein Ja zum Eintritt ins Nazireich entgegentraten.
Mit der Gemeinsamkeit der Hitlergegner, die jene bitter erworbene und schwer bezahlte Erfahrung der separaten Kämpfe in Deutschland während der Weltwirtschaftskrise beherzigte, waren weit gespannte Hoffnungen verbunden, die, als die Stimmen am 13. Januar 1935 ausgezählt waren, sich für viele erschütternd zerschlugen. Es gibt, so erwies sich, Niederlagen, die nicht abgewendet werden können, selbst wenn die Unterlegenen tapfer gekämpft und keine wesentlichen Fehler gemacht haben.
Tapferkeit war bei diesem Aufbäumen gegen den Nazitriumph nötig gewesen, denn die Faschisten hatten in den Monaten des Abstimmungskampfes schon unverhohlen mit der Abrechnung nach ihrem Sieg gedroht. Die 1919 getroffene Bestimmung, daß eine »freie und unbeeinflußte Stimmabgabe« gesichert werden würde, las sich für diejenigen, die inmitten der Abwehrkämpfe standen, wie ein Märchen.
Und Fehler konnten die Antifaschisten nicht machen, die sich dessen sicher und darüber einig waren, wohin der Weg dieses Reiches führen würde und beredt davor warnten. Doch sie operierten mit einer Parole, die sie nicht frei gewählt hatten, als sie dafür eintraten, daß die Saarländer sich entschieden wie im Fall eins vorgesehen: für die Beibehaltung des gegenwärtigen Zustandes, der zudem in die lateinische Formel des Status quo verkürzt wurde. Ihre Situation hätte sich, das ist schwer entscheidbar, womöglich verbessert, wenn die Völkerbundmächte in einem Entschluß demonstrativen Antifaschismus’ erklärt hätten, daß die Abstimmung zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal stattfinden und eine momentane Entscheidung für den Status quo nicht als dauernde gewertet werden würde. Doch an eine solche Herausforderung der Machthaber in Deutschland war nicht zu denken, da namentlich Großbritannien dabei war, sich mit diesem Reich außenpolitisch zu arrangieren. Die Politik des Appeasement warf ihre dunklen Schatten voraus.
Nationalistischer Taumel
Unter diesen Bedingungen war gegen die Hochflut nationalistischer Stimmung mit der Losung »Deutsch ist die Saar«, die vertont als Pausenzeichen von Rundfunksendern erklang, nicht mit Erfolg anzukämpfen. Und für viele verband sich die Entscheidung zugunsten der »Vereinigung mit Deutschland« mit wohltuenden Illusionen von Arbeit und Wohlstand und volksgemeinschaftlicher Eintracht. Vom »Reich« her war alles aufgeboten worden, sie zu nähren. So waren – dies eine Reklameaktion von vielen – Kinder aus armen Familien ins »Reich« geladen worden, die nach Wochen der Erholung neu eingekleidet zu ihren Eltern zurückkehrten.
Die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht, ein Schritt, der manche Stimmabgabe beeinflußt haben könnte, erfolgte zwei Monate nach dem Tag, an dem die weithin bejubelte und gefeierte Entscheidung fiel. Dann vergingen keine fünf Jahre, und die einen Saarländer, Frauen und Kinder vor allem, wurden von der Kriegsgrenze zu Frankreich ins Reichsinnere verfrachtet und andere zogen aus, Frankreich siegreich zu schlagen. Viele von denen hatten am 13. Januar 1935 schon mitstimmen dürfen.
Kurt Pätzold