Alles andere als neutral
Nächste Runde der NATO-Erweiterung? Druck auf Irland, Malta, Österreich und Schweiz steigt
Grant Shapps machte Druck am Mittwoch vergangener Woche in London. Da gebe es Staaten in Europa, die »von dem Schutzschirm des Bündnisses« profitierten, die sich aber »an der kollektiven Abschreckung des Kontinents nicht beteiligten«, beschwerte sich Britanniens konservativer Kriegsminister: »Trittbrettfahrer«, die immer noch an ihrer Neutralität festhielten, anstatt sich endlich in die NATO einzureihen und kräftig in ihr Militär zu investieren. Shapps nannte Irland, Malta, Österreich und die Schweiz nicht beim Namen, und doch war es klar, daß er die vier Länder meinte.
»Wenn der Wolf an der Hintertür der europäischen Sicherheit steht, dann sollte es keinen Platz für Neutralität mehr geben«, befand der Minister und kündigte an, er werde sich dafür einsetzen, daß sie der NATO in aller Form beiträten.
Stärkere Beteiligung
Bereitet sich da abseits der öffentlichen Debatte eine nächste Runde der NATO-Erweiterung vor, diesmal von 32 auf 36 Mitglieder, verbunden mit dem Ende der letzten Überbleibsel wenigstens noch formaler Neutralität in Europa? Nun, ganz so weit sind die Dinge wohl noch nicht gediehen. Die Annäherung der vier offiziell noch bündnisfreien Staaten Westeuropas an die Allianz aber, die sich schon seit langer Zeit beobachten läßt, schreitet aktuell rascher voran als bisher.
Das belegt ein Schreiben, das die Regierungen Irlands, Maltas, Österreichs und der Schweiz bereits im Dezember 2023 an die NATO-Zentrale in Brüssel schickten und aus dem kürzlich zunächst die österreichische Tageszeitung »Die Presse« zitierte, dann auch Schweizer Medien. In ihm heißt es, die »vier Westeuropäischen Partner« (WEP 4) seien von einer »wachsenden Bedeutung« ihrer Kooperation mit der NATO überzeugt, und sie wollten die »Partnerschaft« nun, auch mit Blick auf den Jubiläumsgipfel der NATO im Juli in Washington, »erweitern«.
Konkret schlagen die vier offiziell neutralen Staaten dafür fünf Punkte vor. Zunächst wollen sie ihren Austausch mit der NATO intensivieren, etwa häufiger an »hochrangigen Sitzungen« teilnehmen, vor allem auch am NATO-Rat. Zudem dringen sie auf einen »privilegierten Zugang zu Dokumenten und Informationen«; insbesondere haben sie dabei einen Austausch von Aufklärungsdaten im Sinn. Drittens wünschen sie, mehr in Entscheidungen eingebunden zu werden, insbesondere in die Erstellung von Strategien: »Das erhöht die Legitimität neuer Normen und erleichtert die Bereitschaft der Partner, sich ihnen anzuschließen«, zitiert »Die Presse« aus dem Schreiben der WEP 4.
Viertens bieten sie eine stärkere Beteiligung an Manövern an, »zur Verbesserung der Interoperabilität«; und fünftens wollen sie enger in die rüstungstechnologische Kooperation der NATO einbezogen werden. Letzteres zielt auf eine Beteiligung am »Defence Innovation Accelerator for the North Atlantic« (DIANA), einem 2021 gegründeten NATO-Format, das modernste Hightechinnovationen für die transatlantischen Streitkräfte nutzbar machen soll.
Die Kooperation der offiziell neutralen Staaten mit der NATO reicht weit zurück. Die Schweiz etwa hielt bereits seit den 1950er Jahren regelmäßigen Kontakt zur westlichen Militärallianz, traf etwa – allerdings strikt informell – Absprachen mit der Bundesrepublik Deutschland über sogenannte Anschlußpunkte an der gemeinsamen Grenze, an denen man »im Fall eines sowjetischen Angriffs« den militärischen »Schulterschluß« vollziehen wollte.
Formalisiert wurde die Zusammenarbeit ab Mitte der 1990er Jahre im Rahmen der NATO-»Partnership for Peace« (PfP), die unter anderem gemeinsame Manöver umfaßte; an ihr nahmen neben der Schweiz, Österreich, Irland sowie Malta (nach einem kurzen Hin und Her endgültig ab 2008) auch Finnland und Schweden teil, die allerdings bereits Mitte der 2000er Jahre die formelle Mitgliedschaft ins Visier zu nehmen begannen, wenngleich zunächst nur intern.
»Debatte ohne
Scheuklappen«
Die Schweiz, Österreich und Irland haben sich mehrfach an NATO-Einsätzen beteiligt bzw. tun das noch heute, einst etwa in Afghanistan, zur Zeit im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina. Malta öffnete der NATO im Jahr 2011 immerhin seinen Luftraum für Flüge im Rahmen des Libyen-Kriegs.
In Finnland und Schweden ist es den herrschenden Eliten gelungen, den Ukraine-Krieg zu nutzen, um die zuvor klar ablehnende Haltung der Bevölkerung zu einem NATO-Beitritt zu ändern und klare Mehrheiten für die Mitgliedschaft zu erhalten. Dank der seit den 2000er Jahren intensiv ausgebauten Kooperation der beiden Länder mit der NATO war ihre Aufnahme in das Bündnis, sieht man von den taktischen Manövern der Türkei und Ungarns ab, letzten Endes kaum mehr als eine Formalität.
Auch in den WEP 4 haben zumindest Teile des jeweiligen Establishments den russischen Einmarsch in die Ukraine zu nutzen versucht, um Stimmung für eine weitere Annäherung an die NATO zu machen. In der Schweiz warb Bundespräsident Ignazio Cassis im Mai 2022 für eine »kooperative Neutralität«. In Österreich schrieben diverse Politiker, Wirtschaftsvertreter und Militärs ebenfalls im Mai 2022 einen offenen Brief, indem sie eine »Debatte ohne Scheuklappen« über die Neutralität verlangten. Diese werde allerdings, räumten sie zufrieden ein, schon jetzt »in der Praxis sehr flexibel interpretiert«.
In Irland wiederum schlug der ehemalige, später erneut ins Amt gelangte Ministerpräsident Leo Varadkar im Mai 2022 vor, die Bevölkerung über die Beteiligung der irischen Streitkräfte an einer EU-Armee abstimmen zu lassen; diese solle dann eng mit der NATO zusammenarbeiten – auch dies ein Weg zur indirekten Einbindung in das Militärbündnis. In Malta debattierte das Parlament zur selben Zeit sogar darüber, die seit 1987 in der Verfassung des Landes verankerte Neutralität gänzlich abzuschaffen. Allerdings schien dies wegen offenkundiger Widerstände in der Bevölkerung kaum machbar zu sein.
Mit ihrem Schreiben vom Dezember 2023, das laut Informationen der »FAZ« von Malta initiiert worden sein soll, haben die WEP 4 dem Bemühen um eine intensivere Kooperation nun einen neuen Schub verpaßt. Auch wenn der von Grant Shapps gewünschte NATO-Beitritt noch nicht in Sicht ist: Letztlich ist er vor allem eine Formalität; eine enge militärische Zusammenarbeit geht auch ohne ihn.
Skepsis über
NATO-Mitgliedschaft
Noch sprechen sich in den offiziell neutralen Ländern Westeuropas klare Mehrheiten der Bevölkerungen für die Beibehaltung des Abstands zur NATO aus. Am deutlichsten ist das wohl in der Schweiz der Fall. Im Januar lag der Anteil derer, die den offiziell neutralen Status beibehalten wollten, bei 91 Prozent. In Österreich wiederum äußerten etwa in einer Umfrage im Februar 78 Prozent der Befragten, ihr Land solle weiterhin neutral bleiben. In Irland lag der Anteil im Juni vergangenen Jahres deutlich niedriger, erreichte aber immer noch 61 Prozent. In Malta kam eine Umfrage im Jahr 2022 auf 63 Prozent.
Relativiert werden die Zahlen allerdings durch Zusätze. In der Schweiz etwa sprachen sich 30 Prozent für einen NATO-Beitritt, 52 Prozent für eine Annäherung an das Militärbündnis aus; wie das mit der 91-Prozent-Zustimmung zur Neutralität zusammengehen soll, ist rätselhaft, zumal 50 Prozent sogar für eine operative Kooperation mit der NATO votierten, also für eine praktische Zusammenarbeit der Streitkräfte.
In Österreich wiederum scheint die Haltung zur NATO auch damit zusammenzuhängen, daß nur 16 Prozent auf die Frage, ob sie sich im Fall eines militärischen Angriffs mit der Waffe in der Hand verteidigen wollten, mit einem klaren Ja antworteten und nur 16 weitere Prozent mit »eher ja«; 41 Prozent erklärten entschieden: »auf keinen Fall«. Allerdings sind mittlerweile 51 Prozent zu der – durchaus realistischen – Erkenntnis gelangt, daß Österreichs Neutralität längst »ausgehöhlt« ist; nur 40 Prozent aller Österreicher glauben noch an sie.
In Irland wiederum ergab die Umfrage von 2023, die die Zustimmung zur Neutralität bei 61 Prozent sah, Mehrheiten von 56 Prozent für den Beitritt zur NATO und sogar von 71 Prozent für eine engere Militärkooperation im Rahmen der EU. Wie das zusammengehen soll, bleibt einigermaßen nebulös.
Alpenrepubliken dienen der NATO-Logistik
Manchmal reicht es schon, nichts zu tun und ein wenig wegzuschauen, um eine militärisch wichtige Aufgabe zu erfüllen. Österreichs Regierung ist darin gewöhnlich recht gut. So zum Beispiel im April vergangenen Jahres, als ein Zug mit 20 selbstfahrenden Panzerhaubitzen M109 das Land durchquerte. Hätte da nicht irgendwer den Zug vorbeirattern sehen, reaktionsschnell zum Handy gegriffen und eindeutige Fotos davon online gestellt, es hätte mit dem Wegschauen wohl einmal mehr geklappt. So kam aber heraus, daß das Kriegsgerät nicht von einem österreichischen Übungsplatz zum nächsten gekarrt wurde, sondern von Italien nach Polen.
Transporte zwischen Mitgliedstaaten seien laut einer EU-Richtlinie aus dem Jahr 2009 erlaubt, erklärte Innenminister Gerhard Karner, als die Panzerhaubitzen dann doch ein wenig Rummel verursachten. Schließlich waren sie letztlich nicht für Polen, sondern für die Ukraine bestimmt. Das neutrale Österreich hatte, indem es seine Neutralität mal kurz vergaß – wem passiert das nicht! –, ihre Lieferung erst möglich gemacht.
Derlei ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Innenminister Karner listete in einer Antwort auf eine Anfrage im Parlament für den Zeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 28. April 2023 exakt 75 Waffenlieferungen über österreichisches Territorium auf. Mindestens vier gingen aus der – offiziell neutralen – Schweiz nach Polen; Details über den Endverbleib sind nicht bekannt.
Darüber hinaus fanden – und finden – stets auch Truppenbewegungen über österreichisches Territorium statt. Das liegt nahe: Wollen etwa die deutsche Bundeswehr oder die USA-Streitkräfte in Deutschland Material oder Truppen in die Einsätze im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina oder auch nur zu Manövern nach Südosteuropa verlegen, führt der kürzeste und schnellste Weg über die Alpenrepublik. Im Jahr 2023 wurden laut Angaben der Regierung in Wien exakt 4.584 ausländische Militärtransporte und 6.245 ausländische Militärüberflüge über österreichisches Territorium genehmigt. Für die militärische Logistik der NATO ist das zentral.
Eigene Aktivitäten haben Österreich und die Schweiz inzwischen mit ihrem Beitritt zur ESSI gestartet, der »European Sky Shield Initiative«, die – auf deutsche Initiative – eine gemeinsame Flugabwehr über Europa organisiert. Zwar ist ESSI offiziell nicht bündnisgebunden; es liegt aber nahe, daß das System in den Kriegsplanungen der NATO eine wichtige Rolle spielt. Faktisch binden sich Wien und Bern damit auch operativ in die künftigen Kriege der transatlantischen Militärallianz ein.