Ausland21. Februar 2020

Eine Ruine

Wie der Antifaschismus aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verschwand

Ein Jahr lang feierten die Herrschenden in der BRD sich selbst und das Grundgesetz (GG). Es war 2019 70 Jahre alt geworden.

Was ist – gerade in heutigen Zeiten – mit dem Antifaschismus im Grundgesetz? Die Norm wird leicht übersehen. Er steht abseits, im letzten Kapitel des Grundgesetzes. Wer ihn sucht, erhofft sich mehr als diese Formulierung im leidenschaftslosen Juristendeutsch. In den »Übergangs- und Schlussvorschriften« findet man ihn, den Artikel 139 GG: »Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.« Ein flammendes Bekenntnis zum Antifaschismus liest sich anders, eher ein Antifaschismus in kleiner Münze. Das Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 5 GG) soll für alte und neue Nazis nur eingeschränkt gelten.

Immerhin, denn infolge der Potsdamer Konferenz im August 1945 erließ der Alliierte Kontrollrat Rechtsvorschriften, die einen dezidiert antifaschistischen Inhalt gemein hatten: Es ging nicht nur um Auflösung und Verbot sämtlicher Nazi-Organisationen und um die Strafverfolgung der Nazi-Täter sowie deren Entfernung aus Ju­stiz und Verwaltung, sondern um die generelle Unterbindung der faschistischen Ideologie – auch für die Zukunft. In diesem Sinne formuliert das Kontrollratsgesetz Nummer 8: »Schriftlich, mündlich oder anderweitig betriebene Propaganda oder Agitation, die darauf abzielt, militärischen oder nationalsozialistischen Geist oder derartige Einrichtungen zu erhalten, wieder ins Leben zu rufen oder zu fördern, oder die Verherrlichung des Krieges zum Gegenstand hat, ist verboten.«

Mit der Bildung der Länderregierungen in den Westzonen Deutschlands wurden die Kontrollratsvorschriften schon 1946 zu Ländergesetzen, den sogenannten »Befreiungsgesetzen«. Der Wortlaut des Artikel 139 GG nimmt auf diese »Gesetze zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« ausdrücklich Bezug und machte sie damit zu Bundesrecht.

Doch Befreiungsgesetze wie Artikel 139 GG, die eine Entnazifizierung sicherstellen und die Re-Nazifizierung verhindern sollten, liefen schon mit Gründung der BRD ins Leere. Anders als in der DDR verblieben alte Nazis in Justiz und Verwaltung. Die bruchlose Funktionsfähigkeit des jungen Separatstaates BRD ging vor.

Bezeichnend für die Situation jener Tage ist ein Bittschreiben an die Ministerpräsidenten Westdeutschlands, in dem sich der Richterbund über ständige Attacken der »sowjetzonalen Propaganda« beschwert – gemeint waren die in der DDR herausgegebenen »Braunbücher«. Die Regierung solle sich endlich »schützend vor die Organe der Rechtspflege stellen«. Die Ministerpräsidenten zögerten nicht. Bereits am 17. März 1951 in Schleswig-Holstein – und sodann in den übrigen Bundesländern – wurden Gesetze über »die Beendigung der Entnazifizierung«
erlassen. Im neuen Paragraf 116 des Richtergesetzes eröffnete man den Justizangehörigen, die »in der Zeit vom 1. September 1939 bis 9. Mai 1945 tätig waren«, den Weg in den vorzeitigen Ruhestand – natürlich bei vollen Bezügen.
Mit dem Wegfall der Befreiungsgesetze in den Ländern entzog man Artikel 139 GG die normative Basis. Auf internationalem Parkett vertuschte die Bundesregierung diese kalte Entwertung des Antifaschismus. Als anlässlich des UNO-Beitritts Rechenschaft über den Umgang mit Faschismus und Militarismus abgelegt werden musste, ging es nicht ohne Täuschung. Im Bericht an den UNO-Generalsekretär am 31. Juli 1970 steht, dass die »von den alliierten und deutschen Behörden zur Befreiung des deutschen Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus in Kraft gesetzte Gesetzgebung auch weiterhin in Kraft ist«.

Vereinzelt glaubten Verwaltungsgerichte nun an eine Wiederbelebung des Artikel 139 GG im Sinne einer »antifaschistischen Wertentscheidung«. Doch auch diese inhaltlich eingedampfte Version ließ sich nicht halten. So hob am 12. Dezember 1985 der Hessische Verwaltungsgerichtshof ein Verbot des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main bezüglich der Nutzung von öffentlichen Räumlichkeiten durch die NPD auf. Artikel 139 GG sei mit dem Ende der sogenannten Entnazifizierung gegenstandslos geworden. Etwas anderes anzunehmen, sei rechtsirrig.

Das Bundesverfassungsgericht läutete mit seiner Entscheidung vom 4. November 2009 das juristische Totenglöcklein des Artikels 139 GG: »Das Grundgesetz (kennt) kein allgemeines anti-nationalsozialistisches Grundprinzip.« Gestrichen ist die Norm jedoch noch nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Ruine, die als erstes neue Grundmauern bräuchte.

Ralf Hohmann

Grundgesetz (Foto: Klaaschwotzer/Public Domain)