Ausland06. Juli 2023

Westliche Maßnahmen schaffen Unsicherheit in der Wirtschaft

»Sommer-Davos« in Tianjin: Ökonomische Abkopplung Chinas hätte katastrophale Folgen für die globale Wirtschaft

von Jörg Kronauer

Das »Decoupling«, die ökonomische Abkopplung Chinas, die der Westen vorantreibt, wird die Welt teuer zu stehen kommen: Davor warnte Ngozi Okonjo-Iweala, die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation (WTO), beim diesjährigen »Sommer-Davos«, das am Donnerstag vergangener Woche in der chinesischen Metropole Tianjin zu Ende ging. Reiße man die Weltwirtschaft »in zwei Handelsblöcke« auseinander, dann gingen auf längere Sicht laut Schätzung der WTO gut fünf Prozent der globalen Wirtschaftsleistung verloren, erläuterte Okonjo-Iweala.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) halte sogar einen Verlust von bis zu sieben Prozent für wahrscheinlich. Wie man es auch drehe und wende: Es gehe um ein Volumen, das in etwa der Wirtschaftsleistung Japans entspreche, der drittgrößten Volkswirtschaft weltweit nach den USA und China. Ein solcher Verlust wäre »katastrophal«, stellte die WTO-Generaldirektorin fest: »Decoupling und Fragmentierung ist etwas, was sich die Welt ganz einfach nicht leisten kann.«

Nun, vielleicht kann sich die Welt ein Decoupling nicht leisten; derlei Kleinigkeiten haben aber den Westen, wenn es darauf ankam, noch nie interessiert. Auf der Tagung in Tianjin, die offiziell als »Jahrestagung der New Champions« firmiert und die zum Veranstaltungszyklus des Weltwirtschaftsforums (World Economic Forum, WEF) in Davos gehört, wurden die in den USA und in der EU geplanten Maßnahmen, die auf eine zunehmende technologische Abkopplung der Volksrepublik abzielen, mit deutlich spürbarer Sorge diskutiert. Denn die nächsten Schritte stehen vermutlich kurz bevor.

Die Vereinigten Staaten bereiten sich ganz gezielt auf die Einführung des sogenannten »Outbound Investment Screening« vor. Damit sollen US-amerikanische Investitionen in China kritisch überprüft und in Fällen, in denen damit ein Washington nicht genehmer Technologietransfer verbunden wäre, komplett untersagt werden. Offiziell geht es nur um Technologien, die einen militärischen Nutzen haben. In Wirklichkeit geht es darum, die Volksrepublik von modernsten Hightech-Produkten abzuschneiden, um ihren Aufstieg zu bremsen oder gar zu stoppen. Die Folgen reichen weit.

Und das umso mehr, als die Maßnahmen – nicht als »Decoupling«, sondern von der EU als angeblich weniger weit reichendes »Derisking« angepriesen – nicht nur zentrale chinesische Hightech-Branchen existentiell gefährden würden; schon das wäre dramatisch genug. Die Regeln, denen die Biden-Administration Geltung verschaffen will, sind zumindest in ihrer aktuellen Form – darauf wies erst Ende Mai das Washingtoner Peterson Institute for International Economics (PIIE) ausdrücklich hin – schwammig formuliert. Es ist nicht klar, was genau sie alles im Detail betreffen, und insofern schaffen sie Unsicherheit in der Wirtschaft im großen Stil, sie hemmen also nicht bloß Hightech-, sondern auch weitere Investitionen.

In diesen Tagen wird USA-Finanzministerin Janet Yellen in Peking erwartet, um den Nebel etwas zu lichten und den Unmut in China nach Kräften zu dämpfen. Der ist groß. Wer immer weiter »unsichtbare Schranken« in der Welt errichte, hatte Ministerpräsident Li Qiang in Tianjin in seinem Eingangsstatement gewarnt, verursache »Fragmentierung und sogar Konfrontation«.

Nicht alle setzen auf »Decoupling« bzw. »Derisking«. Neuseelands Premierminister Christopher Hipkins, der am »Sommer-Davos« teilnahm, reiste anschließend mit einer großen Wirtschaftsdelegation weiter; er wolle die Zusammenarbeit mit China ausbauen und die Beziehungen »auf eine neue Ebene« heben, hatte der Labour-Politiker vorab mitgeteilt: Von »Entkopplung« war keine Rede.

Aus der EU wiederum meldete sich ausgerechnet die ungarische Regierung widerspenstig zu Wort, die Außenminister Péter Szijjártó nach Tianjin entsandt hatte. Szijjártó beklagte eine »sehr ideologische« Atmosphäre in der EU. Ungarn, Großstandort deutscher Autohersteller, profitiere davon, daß etwa Chinas Autobatterieproduzent CATL in Ungarn Milliarden investiere. »Wenn die deutsche Außenministerin von Decoupling redet, dann rufen mich die Chefs der deutschen Kfz-Hersteller an«, berichtete Szijjártó, »damit ich ihre chinesischen Zulieferer überzeuge, nach Ungarn zu kommen«. »Sowohl Decoupling als auch Derisking wären ein Selbstmord der europäischen Wirtschaft« – nicht zuletzt auch »der deutschen« Industrie.

Traditionell beschäftigt sich das »Sommer-Davos« mit ganz anderen Themen – vor allem mit den modernsten Technologien und der Frage, wie sie gefördert und weiterentwickelt werden können. Auch diesmal wurde ein Bericht über die zehn aktuell vielleicht bedeutendsten aufstrebenden Technologien veröffentlicht, darunter etwa nachhaltiges Computing, eine von künstlicher Intelligenz unterstützte Gesundheitsversorgung und nachhaltiger Treibstoff für Flugzeuge. Technologien wie diese hätten das Potential, »das Leben zu verbessern und den Planeten zu schützen«, gab sich WEF-Geschäftsführer Jeremy Jürgens gewiß.

Die Debatte darum, ob er recht hat, was die neuen Technologien tatsächlich hergeben bzw. wie man sie künftig nutzen kann, litt allerdings spürbar unter den vom Westen oktroyierten Rahmenbedingungen.