Luxemburg16. September 2021

Interview mit den SEW/OGBL-Gewerkschaftern und Sekundarschullehrern Vera Dockendorf und Michel Reuter

»Der Teile-und-herrsche-Politik des Ministers können wir am besten mit einer Gewerkschaftsfront entgegenwirken«

von Alain Herman

Es scheint ein großes Kommunikationsproblem zwischen dem SEW/OGBL und dem Bildungsministerium, an dessen Spitze seit 2013 der DP-Politiker Claude Meisch steht, zu existieren. Was wirft die Lehrergewerkschaft dem Minister und seinen Beamten konkret vor?

Michel Reuter: Konkret wirft das SEW den handelnden Personen im Bildungsministerium eine quasi inexistente Kommunikation vor. Briefe an den Minister bleiben unbeantwortet und auch Anfragen für Unterredungen fallen auf taube Ohren. Wenn mal eine Unterredung stattfindet, nutzt der Minister die Gelegenheit nicht für einen Austausch, sondern ist nur darauf bedacht, das SEW vor vollendete Tatsachen zu stellen. Eine Diskussion findet nicht statt und der Dialog, den Herr Meisch zu pflegen mag, ist eigentlich nur ein Scheindialog und eine einseitige Kommunikation von Seiten des Ministeriums. Es wird eine Politik des »fait accompli« betrieben. Treffen ohne konkrete Tagesordnung werden kurzfristig angekündigt, und erlauben dem SEW kaum, sich auf die Themen vorzubereiten. Dies scheint eine gezielte Taktik zu sein, da das Ministerium schon vor der Covidkrise so verfuhr.


Wie lässt sich diese Ignoranz erklären und wie kann die Gewerkschaft diesem Umstand entgegenwirken?

Vera Dockendorf: Zum einen entsteht der Eindruck, dass das Bildungsministerium überfordert ist. Diesen Eindruck vermittelte das Ministerium aber schon vor der Covidkrise, da viele Reformen undurchdacht und übers Knie gebrochen wirkten. Zum anderen wirkt es aber auch immer mehr so, als ob der Bildungsminister die Covidkrise gezielt dazu nutze, um den Sozialdialog mit den Gewerkschaften und anderen Bildungspartnern zu verweigern. Wie könnte man den Privatisierungsversuch sonst erklären, der uns im November 2020 ereilen sollte? Nur durch massiven Druck der Gewerkschaften ließ sich dieser Versuch vorerst abwenden. Obwohl Herr Meisch Mitglied einer Partei ist, die sich als »demokratisch« bezeichnet, zeigt er ein großes Desinteresse an demokratischen Entscheidungsprozessen und führt vor allem einen Scheindialog mit den Gewerkschaften und anderen Bildungspartnern, wie z.B. den Schülervertretungen.

Minister Meisch setzt gezielt auf eine Teile-und-herrsche-Politik. Dem entgegenwirken können wir am besten mit einer Gewerkschaftsfront. Das SEW arbeitet seit einiger Zeit an einem besseren Kontakt mit den anderen Gewerkschaften im Sekundarschulbereich. So entstand im Mai 2021 auch der Kooperationsvertrag mit der Lehrergewerkschaft APESS.

Weiterhin erachten wir es als wichtig, als Gewerkschaft auch in Kontakt mit den Lehrkräften zu treten, die nicht oder noch nicht Mitglied im SEW sind. Wir bieten z.B. eine Weiterbildung über die Rechte der Lehrkräfte in der Sekundarschule an und können den Lehrkräften somit auch die Arbeit einer Gewerkschaft und ihre Rolle in Bezug auf die Arbeitsbedingungen näherbringen.

Der Privatisierungsversuch im November 2020 hat gezeigt, dass gewerkschaftliche Aktionen und enge Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften die größten Erfolge im Kampf gegen die Alleingänge des Ministers darstellen.


Welche Bilanz zieht das SEW nach zwei Pandemiejahren – was die Verwaltung seitens des Ministeriums betrifft, aber auch das Wohlergehen und den Bildungsprozess der Schüler angeht?

M.R.: Als SEW war es unser Hauptanliegen, die Schulen bestmöglich im Einklang mit den sanitären Bedingungen geöffnet zu halten und einen mehr oder minder normalen Schulbetrieb aufrecht zu erhalten. Die Pandemie bedeutete einen enormen Einschnitt in das soziale Leben der Schüler. Es wurde stark eingeschränkt, und viele konnten ihre Jugend nicht ausleben. Die Schule blieb oft der einzige Ort, an dem Jugendliche soziale Kontakte außerhalb der Familie hatten. Diesbezüglich muss man zugeben, dass unsere Erwartungen im Einklang waren mit dem Vorgehen der Entscheidungsträger, sowohl im Unterrichts- als auch im Gesundheitsministerium.

Wenn es jedoch darum ging, gezielte Maßnahmen zu nehmen, um den Schulalltag sicherer zu gestalten, wurde von Seiten Meischs zu spät reagiert. Als Beispiel seien die CO2-Ampeln erwähnt, die erst ab Januar 2021 installiert worden sind.

Zudem war eine Forderung des SEW, effiziente Lüftungsanlagen in den Klassenräumen zu installieren. In vielen Schulen lassen sich die Fenster nur teilweise oder gar nicht öffnen, was das regelmäßige Lüften erschwert. In unseren Augen wären Lüftungsanlagen vorteilhaft, um die Luftqualität zu regulieren. Bisher hat sich das Ministerium geweigert, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Zum Bildungsprozess müssen wir leider feststellen, dass durch das Homeschooling die Unterschiede bei den Leistungsfortschritten zwischen dem »Classique« (ESC) und »Général« (ESG) noch größer geworden sind. Vor allem im ESG, also dem früheren »Technique«, kann Online-Unterricht den Präsenzunterricht nicht ersetzen. In der Pandemie wurde Bildung immer mehr zur sozialen Frage. Sozial bessergestellte Schüler konnten mit den neuen Gegebenheiten deutlich besser umgehen als Schüler aus einkommensschwachen Verhältnissen, die sich zumeist im ESG wiederfinden. Dies haben auch die Resultate der Epreuves standardisées verdeutlicht.


Das SEW wünscht sich eine Reform des unteren Zyklus im technischen Sekundarunterricht. Darüber hinaus schlägt das SEW eine Verlängerung des sogenannten »cycle inférieur« auf vier Jahre vor. Inwiefern versprechen Sie sich durch eine solche Änderung eine bessere berufliche Orientierung sowie ein zum Teil gerechteres Schulsystem?

M.R.: In Bezug auf den unteren Zyklus im ESG ist es uns wichtig, dass die Versetzungskriterien transparent sind. Damit die berufliche Orientierung so objektiv und gerecht wie möglich sein kann, bedarf es klarer Linien, die für Schüler und Eltern verständlich sind. Das aktuelle System ist sehr komplex und nur schwer nachvollziehbar für Außenstehende. Ein 5G-Schüler hat auf den ersten Blick alle Möglichkeiten, was seine schulische Zukunft anbelangt – sei es im ESG oder in der Berufsbildung. In der Praxis sieht man dann aber, dass es sehr auf das individuelle Profil des einzelnen Schülers ankommt und welche Leistungsebenen er erreicht hat. Das System erlaubt eine leichte Versetzung von 7G auf 6G und dann auf 5G. Für das schulische Weiterkommen nach der 5G spielen dann auf einmal die zwei Leistungsebenen in den sogenannten Hauptfächern eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt, dass verschiedene Schwächen in einzelnen Fächern auch zu Entscheidungsfaktoren werden, obwohl sie in den Jahren davor nicht ausschlaggebend waren. Viele Schüler und Eltern müssen dann feststellen, dass auf 5G nicht mehr genug Zeit bleibt, um auf die höhere Leistungsebene zu gelangen und fachliche Mängel zu beheben.

Das jetzige System verlangt deshalb quer durch den unteren Zyklus Reife und Verantwortungsbewusstsein von Schülern, die sich in einer Phase ihres Lebens befinden, in der sich sehr viele Dinge verändern und in der sie nicht unbedingt den Überblick über die Orientierungsprozedur haben. Besonders im ESG ist die schulische und berufliche Orientierung eine große Herausforderung für die Schüler, weil doch sehr viel auf dem Spiel steht.

Deshalb erwartet das SEW von einer Verlängerung des cycle inférieur eine Möglichkeit, Mängel in verschiedenen Fächern zu kompensieren, neues Wissen und Kompetenzen zu entwickeln, und mit einem Jahr mehr Erfahrung, eine reifere Entscheidung zu treffen. Vor allem könnte man dieses weitere Jahr nutzen, um aktiv die Berufswahl der Schüler zu gestalten, zum Beispiel anhand von Praktika oder Betriebsbesuchen.

Im sogenannten »Classique« wählen die Schüler zum Beispiel auch erst nach der 4e ihre Sektion. Wenn dies auch im »Général« der Fall wäre, wäre es auch einfacher »Passerellen«, d.h. Übergänge zwischen den zwei Systemen zu schaffen.


Wie sieht das SEW das aktuelle Bild des Lehrers in der Gesellschaft? Ist der Beruf tatsächlich so attraktiv? Was könnte getan werden, um das Ansehen des Berufs zu stärken?

V.D.:Dass der Beruf nicht attraktiv genug ist, zeigt die Tatsache, dass ein akuter Mangel an adäquat ausgebildetem Personal herrscht. Das Bildungsministerium versucht dem im ES nicht zuletzt auch durch die Gründung internationaler oder europäischer Schulen entgegenzuwirken, für welche in hohem Maße Personal vornehmlich aus dem englischsprachigen Raum rekrutiert wird.

Zudem wird die Qualität der Lehrerausbildung im ES – 5 Jahre Studium und 2 Jahre pädagogische Ausbildung – konsequent vom Ministerium und dadurch auch von der Presse, Eltern und Schülern in Frage gestellt: Der Eindruck entsteht: Jeder kann unterrichten. Die Covidkrise hat dieses Bild jedoch wieder in ein anderes Licht gerückt: Viele Eltern und Schüler haben bemerkt, dass ihr Lernfortschritt eng an die Arbeit der jeweiligen Lehrkraft geknüpft ist.


In Luxemburg besteht ein Mangel an gut ausgebildeten Lehrern. Was war an der Einstellungspolitik des Ministeriums in den letzten Jahren falsch? Welche Maßnahmen wären denkbar, um den Lehrermangel sowohl in der Grundschule als auch in der Sekundarschule – insbesondere in den Naturwissenschaften und den technisch-informatischen Fächern – zu beheben, ohne die Lehrerschaft in unterschiedliche Gehaltskategorien aufzuteilen?

M.R.: Eine allgemein zufriedenstellende Antwort auf diese Frage würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Viele Aspekte spielen hier mit.

Ein langfristiger Lösungsansatz für mehr Lehrkräfte im technisch-informatischen Bereich läge sicherlich darin, Genderstereotypen in Bezug auf Berufsbilder von sogenannten Männer- und Frauenberufen abzubauen und Mädchen und Frauen in Naturwissenschaften mehr zu fördern sowie Jungs und Männer zu bestärken, sich für soziale Berufe zu interessieren. Als Beispiel kann man hier die »Spillschoulsjoffer« nehmen, für die es unseres Wissens kein männliches Pendant gibt.

Es geht aber auch darum, die Schüler den Beruf des Lehrers positiver erfahren zu lassen. Zum einen kann jeder Lehrer einen Beitrag durch den eigenen Unterricht leisten, zum anderen muss es aber wieder mehr Wertschätzung für den Lehrerberuf außerhalb der Schulmauern geben.

Die Orientierung der Schüler muss auch über die schulische Laufbahn hinaus auf den späteren Beruf ausgeweitet werden. Das SEW wird hier an Informationsmaterial arbeiten und während dieses Schuljahrs über den Beruf des Lehrers und dessen Arbeitsbedingungen informieren.


Claude Meisch erwähnt in seinen Reden gern die Stärkung des Mitspracherechts aller Akteure aus der Schulgemeinschaft. Dazu hat er nun ein neues Beratungsgremium aus der Taufe gehoben, den sogenannten »Conseil supérieur de l’Éducation nationale« (CSEN). Was halten Sie von solchen Maßnahmen? Können damit die Luxemburger Schule demokratischer und die Diskussionen bei anstehenden Reformen offener gestaltet werden? Oder besteht die Gefahr, dass die Stimmen der Hauptakteure, nämlich jene der Schüler und Lehrer, untergehen?

V.D.: Im Juli 2021 wurde seit über einem Jahr wieder ein CSEN einberufen. Das Verhalten des Ministers während dieses CSEN spricht Bände. Zuerst erfolgte, ohne den Minister, die Wahl der Vertreter der unterschiedlichen Vertretungen. Als der Minister schließlich eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn eintraf, wurde schnell ein Foto gemacht, das den Dialog mit allen Bildungspartnern bezeugen sollte. Anschließend hielt er einen Monolog von 15 Minuten, in dem er gelobte, mehr in den Dialog mit allen Bildungspartnern zu treten, und die Veranstaltung war zu Ende.

Diese Politik des Scheindialogs zieht sich wie ein roter Faden durch die Bildungslandschaft: Gremien mit demokratieversprechenden Namen werden gegründet, aber sie besitzen keinerlei Entscheidungsgewalt. Der schulinterne »Conseil d’Education«, in dem Lehrpersonal, Schüler und Eltern und die Schulleitung vertreten sind, erfüllt letztendlich auch nur eine Alibifunktion: Das Gesetz sieht vor, dass am Ende immer die Schulleitung entscheidet, wenn man nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommt. Wir fordern daher schon seit längerem eine Gesetzesreform in Bezug auf die Vertretung des Schulpersonals im Sekundarschulbereich. Der schulinternen Lehrervertretung muss per Gesetz mehr Zeit zugestanden werden, um die Lehrerschaft zu vertreten. Außerdem sollen die Lehrervertretungen gesetzlich auch die Möglichkeit erhalten, ihre Arbeit in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften zu verrichten. Den Gewerkschaften soll, wie es im Privatsektor ja auch der Fall ist, Zutritt zu den Schulen gewährt werden, damit sie die Lehrervertretungen bei ihrer Arbeit – falls nötig – unterstützen können.  Eine ähnliche Art der Vertretung könnten wir uns auch für die Schüler vorstellen.


Wie kann die Lehrergewerkschaft den Schülern zur Seite stehen resp. diesen die Bedeutung fortschrittlicher gewerkschaftlicher Arbeit näherbringen?

V.D.: Wir müssen unsere Schüler mehr über den Sinn und Zweck gewerkschaftlicher Arbeit informieren und sie dazu ermutigen, sich gesellschaftlich zu engagieren. Viele Schüler sind nicht per se politisch desinteressiert: Sie wissen nicht, dass sie über eine gewisse Macht verfügen, und sie meinen, gesellschaftliches Engagement würde ja eh nichts bringen. Deswegen ist es auch wichtig, Schülern zu zeigen, wo und wie sie sich engagieren können und wie sie ihrer Stimme Gehör verleihen können. In diesem Sinn wäre es auch wünschenswert, dass Schüler- und Studentenvertretungen wie die UNEL oder die CNEL mehr Zugang zu allen Sekundarschulen erhalten und dass die Rolle des Schülerkomitees aufgewertet wird.

Um den Schülern die Bedeutung der Gewerkschaften für ihr späteres Arbeitsleben näherzubringen, hat das SEW den Lehrkräften anlässlich des 1. Mai 2021 kostenloses Unterrichtsmaterial zur Verfügung gestellt, das anschaulich zeigt, welche sozialen Errungenschaften die Gewerkschaften der großen Mehrheit der Gesellschaft gebracht haben.

Wie steht es um die Gleichstellung der Geschlechter im Luxemburger Schulsystem? Wurden hier Fortschritte gemacht oder besteht noch Nachholbedarf? Wenn ja, auf welchen Ebenen wären Verbesserungen nötig?

V. D.: Es besteht definitiv Nachholbedarf, da ist die Schule auch nur ein Abbild der Gesellschaft. Der Einfluss von Geschlechterrollen sollte z.B. regelmäßig thematisiert werden und gehört im Lehrplan verankert. Nur indem wir gesellschaftliche Strukturen verstehen und analysieren, können wir uns letztendlich von ihnen freimachen, falls wir erkennen, dass uns diese unter Druck setzen und uns unserer Freiheit berauben. Auch in puncto Berufswahl – Stichwort »Männer- und Frauenberufe« – kann die Schule so einen Beitrag leisten, indem sie die Schüler ermutigt, sich frei von Geschlechterrollen zu entwickeln und zu entfalten.

Das Interview führte Alain Herman