Ausland20. April 2022

Ungesühnte Kriegsverbrechen im Irak-Krieg

Neue Erkenntnisse im Fall der bombardierten irakischen Stadt Hawidscha belasten niederländische Regierung. Den Haag gegen Entschädigung

von Gerrit Hoekman

In der Nacht zum 3. Juni 2015 bombardierten niederländische »F-16«-Kampfjets die irakische Stadt Hawidscha, die damals von der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) kontrolliert wurde. Neue Erkenntnisse machen deutlich, daß das Leid, das der Angriff unter der Zivilbevölkerung angerichtet hat, weitaus größer ist als bislang bekannt. Das ergab eine gemeinsame Untersuchung der Universität Utrecht, der Friedensorganisation Pax und der irakischen Hilfsorganisation Al-Ghad, berichtete die öffentlich-rechtliche »NOS« am 7. April. Der Luftangriff, der einer Bombenwerkstatt des »IS« galt, zerstörte ein gesamtes Stadtviertel. Mindestens 85 Zivilisten starben, mehrere hundert wurden verletzt. Etwa 1.200 Geschäfte und Unternehmen wurden beschädigt sowie 6.000 Wohnungen. Bisher ging man von etwa 60 Toten aus.

Die Opfer kämpfen bis heute um eine individuelle Entschädigung und eine offizielle Entschuldigung der Regierung in Den Haag. »Den Forschern zufolge trägt das Versäumnis, dies zu tun, zu einer antiwestlichen Stimmung bei, die der Nährboden für die nächste terroristische Organisation sein könnte«, berichtete die »NOS«. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, daß der »IS« nach dem verheerenden Angriff noch zwei Jahre Hawidscha kontrollierte. Die Einwohner hätten als Folge des Angriffs während dieser Zeit keinen ausreichenden Zugang zu medizinischer Versorgung, sauberem Wasser und Strom gehabt. Aus der Stadt zu fliehen, sei zudem aussichtslos gewesen.

Zahlreiche Betroffene des Luftangriffs hätten Traumata und körperliche Behinderungen davongetragen, ergab die Untersuchung. Viele Familien seien durch den Verlust des Oberhaupts und »Ernährers« in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Als Konsequenz nahm die Kinderarbeit zu.

In der Dokumentation »Als de bom valt«, die vor einigen Wochen im niederländischen Fernsehen lief, kommen die Opfer zu Wort. Abdullah Saleh etwa, der bei dem Angriff Frau und fünf Kinder verlor und aus Hawidscha fortgezogen ist. Oder ein Junge namens Omar, der bis heute von den Brandwunden in seinem Gesicht gezeichnet ist. »Warum haben sie uns bombardiert? Wußten sie nicht, daß dort Menschen wohnen?« fragt er wütend. Es sei an der Zeit, daß die niederländische Regierung die Verantwortung für die Gräueltat übernehme, forderte Sabhan Khalaf Ali, Bürgermeister von Hawidscha. »Wir sind enttäuscht«, sagte er.

Die Niederlande haben zwar 4,4 Millionen Euro für den Wiederaufbau der zerstörten Gebäude in Hawidscha zugesagt. Passiert sei bis jetzt aber wenig, so die Studie der Uni Utrecht. Eine individuelle Entschädigung lehnt Den Haag nach wie vor ab. Weil der Waffeneinsatz »rechtmäßig« gewesen sei, tragen die Niederlande zwar die Verantwortung für den Angriff, sind aber nicht für die Schäden haftbar zu machen, sagte Armeeministerin Kajsa Ollongren. Auch wenn das »eine schwierige Botschaft« für die Opfer und Hinterbliebenen sei.

Daß die Regierung eine Beihilfe zum Wiederaufbau des Viertels zahle, sei freiwillig. »Ich verstehe, daß die Projekte zugunsten der Gemeinschaft nicht als Entschädigung oder Anerkennung für ihr individuelles Leid empfunden werden können«, so Ollongren. Sie hoffe jedoch, daß die Niederlande auf diese Weise einen dauerhaften Beitrag zu einer »besseren Zukunft für die betroffene Gemeinschaft als Ganzes« leisten würden. Die Forscher der Studie empfehlen hingegen, eine niederländische Delegation solle nach Hawidscha reisen, sich im Namen der niederländischen Regierung entschuldigen, die verursachten Schäden anerkennen und sie wiedergutmachen.