Leitartikel09. Oktober 2021

Keine großen Erwartungen

von Ali Ruckert

Kommende Woche wird Premierminister Bettel in der Chamber über »die Lage der Nation« plaudern, aber es ist nicht zu erwarten, dass danach die Aussicht besteht, dass die Regierung Maßnahmen ergreifen wird, die dazu führen könnten, dass die wachsenden Probleme eines immer größeren Teils der Bevölkerung spürbar abnehmen werden.

Warum das so ist, hängt damit zusammen, dass die Politik dieser Regierung mit dazu beigetragen hat, dass die Probleme größer wurden, zum Beispiel in der Arbeitswelt und im Gesundheitswesen, aber auch im Sozialbereich, weshalb es geradezu lächerlich ist, wenn die LSAP nun behauptet, sie wolle demnächst gegen das hohe Armutsrisiko vorgehen. Wieso tat sie das denn nicht während der vergangenen Regierungsjahre?

Der DP, der LSAP und den Grünen, und vor ihnen der CSV, ist zuzuschreiben, dass der gesetzliche Mindestlohn heute noch immer zu niedrig ist, um ein Leben ohne Armutsrisiko führen zu können. Aus Rücksicht auf das Kapital lehnt die Regierung aber jede strukturelle Erhöhung des Mindestlohnes ab, und erst recht den Vorschlag der KPL, den Mindeststundenlohn auf 14 Euro anzuheben.

Auch die Desindexierung des Kindergeldes, die 2006 von der Regierung beschlossen wurde, trug dazu bei, dass immer mehr Familien die beiden Enden zum Monatsende nicht mehr zusammenbekommen. Dass dies nach 15 Jahren rückgängig gemacht werden soll, ist wohl zu begrüßen, ändert aber nichts daran, dass das heutige Kindergeld, im Vergleich zu 2006, nur noch einen Wert von 80 Prozent hat, so dass ein großer finanzieller Nachholbedarf besteht, den die Regierenden aber nicht sehen wollen.

Gerade zu lächerlich ist es, wenn die Regierung nun die Corona-Krise vorschiebt, um die versprochene Steuerreform doch nicht vorzunehmen. Eigentlich sind Maßnahmen im Sinne größerer Steuergerechtigkeit längst überfällig. Dazu zählen unter anderem ein steuerfreier Mindestlohn, eine Wiedereinführung der Anpassung der Steuertabellen an die Inflation, die Abschaffung der Steuerklasse 1A und die Reklassierung der Alleinerziehenden und Verwitweten in Steuerklasse 2 und, im Interesse der kleinen und mittleren Einkommensbezieher, eine Abflachung der Steuerprogression.

Dass diese Regierung es zudem systematisch ablehnt, die Kapitalsteuern zu erhöhen und wieder eine Vermögenssteuer für Reiche einzuführen, bestätigt eigentlich nur, wessen Interessen sie in Wirklichkeit vertritt.

Das zeigt sich auch im Wohnungsbereich. Hier weigert sich die Regierung nicht nur, den Boden- und Immobilienspekulanten kräftig auf die Füße zu treten, sondern hilft ihnen auch indirekt, indem sie von der Notwendigkeit, dem Bau von bezahlbaren öffentlichen Mietwohnungen Priorität einzuräumen, nichts wissen will.

Wer allzu große Erwartungen in die Regierungspolitik im Allgemeinen und die Rede des Premierministers zur Lage der Nation hegt, riskiert enttäuscht zu werden, sofern das nicht schon durch die Erfahrungen der vergangenen Jahre geschehen ist.

Grundlegende Verbesserungen in der Arbeitswelt, im Gesundheitswesen, in der Sozialpolitik und in anderen gesellschaftlichen Bereichen können am besten durchgesetzt werden, indem die Schaffenden sich zusammentun und ein Kräfteverhältnis schaffen, das es ihnen möglich macht, ihre Interessen gegen das Patronat und die Regierung durchzusetzen. Daran gilt es zu arbeiten.