Ausland10. Dezember 2022

Auf in den Indopazifik?

NATO-Strategie und NATO-Außenministertreffen in Bukarest

von Klaus Wagener

Eine Abkehr vom bisherigen Crash-Kurs war nicht zu erwarten vom NATO-Außenministertreffen am 29. und 30. November in Bukarest. Die westlichen Kriegsfalken, allen voran NATO-Lautsprecher Jens Stoltenberg, sehen sich auf der Siegerstraße. Man müsse »die Russen auf dem westlichen Balkan stoppen«, so der italienische Außenminister Antonio Tajani, also die »unglaublich tapferen ukrainischen Soldaten« unterstützen so lange wie nötig. In den alten Zeiten hätte man gesagt: bis zum Endsieg.

Etwas anderes als ein Sieg auf dem Schlachtfeld und ein vom Westen diktiertes »Friedensabkommen« scheint für die NATO-Oberen schlicht nicht vorstellbar. Stoltenberg erinnerte an die NATO-Konferenz 2008, die ebenfalls in Bukarest stattfand und auf der der Beschluß zur Aufnahme der Ukraine in die NATO gefaßt worden war. Er bekräftigte noch einmal ausdrücklich diesen Beschluß: »Wir demonstrieren, daß die Tür zur NATO offen ist, nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten.«

Die russische Führung hatte seit 2008 wiederholt darauf hingewiesen, daß eine Aufnahme der Ukraine in die NATO sicherheitspolitisch für Moskau eine Rote Linie darstellt, deren Überschreitung hinzunehmen es nicht bereit und nicht in der Lage sei. Im Klartext bedeutet die Botschaft des NATO-Treffens an Moskau: Der sicherheitspolitische Casus Belli besteht nach wie vor. Eine Basis für Verhandlungen ist nicht gegeben.

Ganz davon abgesehen, daß auch niemand im Westen, der darüber zu entscheiden vermag, so etwas ernsthaft will. Die westlichen Kriegsfalken ziehen es weiterhin vor, in ihrer Parallelwelt zu verharren, die sich immer weiter von der Wirklichkeit entfernt. Und so wird der Krieg bis zum letzten Ukrainer weitergehen.

Ihr »Erfolg« in der Ukraine reicht den NATO-Kriegsfalken natürlich nicht. Seit einiger Zeit zieht es ihre strategischen Vordenker in den Indopazifik. Genauer gesagt: nach China. Zwar ist das Reich der Mitte in der Bukarester Abschlußerklärung nicht benannt worden, es wird aber seit einiger Zeit von der NATO als »Herausforderer« eingestuft. Im August dieses Jahres hatte die NATO ein 96-seitiges Strategiepapier zum Indopazifik für den Zeitraum »bis 2040 und darüber hinaus« veröffentlicht. Danach sei China in der vorhersehbaren Zeit ein »dominanter Einflußnehmer« in der Region. Politisch liefen »die indopazifischen Staaten Gefahr, von einem vorherrschenden China durch ökonomische, diplomatische, kulturelle und militärische Mittel in Bündnisse gedrängt, eingeengt oder gespalten zu werden, wodurch die Macht des Rechts, die internationale Ordnung, die demokratischen Werte, die Freiheit der Meere sowie die Souveränität und territoriale Integrität der Staaten bedroht« würden. Daß hier die NATO eingreifen muß, liegt auf der Hand.

Genauer betrachtet hat der gewaltige indopazifische Raum wenig mit dem Nordatlantik zu tun, aber das hatten beispielsweise Afghanistan, Libyen, Syrien oder das Horn von Afrika auch nicht. Aber die Zuständigkeit der NATO bei der Verteidigung einer (imaginären) staatlichen Souveränität Taiwans zu bezweifeln hieße auch anzuzweifeln, daß es sich bei der NATO um ein Verteidigungsbündnis handelt und zu unterstellen, sie sei ein Werkzeug der Machtpolitik der USA.

Dummerweise hatte die Democratic Progressive Party (DPP) von Tsai Ing-wen bei den Kommunalwahlen in Taiwan eine bittere Niederlage gegen die alte Guomindang (GMD) hinnehmen müssen. Tsai Ing-wen, die als Marionette Washingtons – genauer: als eine Art Selenski Taiwans – gilt, hatte die Wahlen zuvor zur Vertrauensabstimmung über ihre Politik hochgestuft. Folglich hatten die Taiwanesen ihr die Rote Karte gezeigt. Tsai Ing-wen mußte vom Parteivorsitz zurücktreten. Aber solche Details werden die Neokonservativen in der Biden-Regierung nicht entmutigen.

Washington hat noch immer die Kriege führen können, die es führen wollte – und Rußland und China stehen seit mehr als zehn Jahren ganz oben auf der Liste. Da hat die NATO dabei zu sein, ganz gleich ob sie will oder kann.

Rußland ist allerdings nicht Afghanistan und China nicht der Irak. Die USA und die NATO sind heute nicht mehr in der Lage, erfolgreiche konventionelle Kriege – von nuklearen wollen wir nicht reden – gegen diese Staaten zu führen. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur mehr als Zehntausende Soldaten das Leben gekostet, sondern auch – ohne signifikanten Effekt auf dem Schlachtfeld – die NATO-Waffenlager weitgehend entleert. Möglicherweise wird Letzteres die NATO-Falken zum Nachdenken bringen. Sicher ist auch das nicht.