Ist »Make Organ Great Again« eine Mogelpackung?
Auf der Schuke-Orgel der Philharmonie bleibt der amerikanische Starorganist Cameron Carpenter seinem extravaganten Markenzeichen gerecht.
Wer zu Carpenter geht, der weiß, dass er alle Erwartungen und überlieferten Aufführungsgebräuche spätestens in der Garderobe zurücklassen muss, denn Cameron versteht sich als alles andere denn als Anwalt der von ihm dargebotenen Werke. Im Gegensatz zu anderen Musikgattungen, die sich immer auch der historischen »Wahrheit« verpflichtet fühlen, ist im postmodernen Orgelbetrieb die absolute Freiheit angesagt, in einer grenzenlos individualisierten Ausdruckswelt.
Es bleibt demnach der »ohne Eigenschaften« lauschenden Zuhörerschaft überlassen, sich vom Zauber der Musik berauschen zu lassen, oder eben nicht. Zwei Choräle von César Franck belegen hinreichend, dass auch der Unvoreingenommene schnell an die Grenzen seines Aufnahmevermögens gedrängt werden kann.
Das systematische Betätigen des Schwellpedals (das gesamte in einem verstellbar geschlossenen oder geöffneten Kasten befindliche Pfeifenwerk) auf jeder einzelnen aufgeplusterten Note, das süßliche Kolorieren des Orgelklangs hin zum salonartigen Harmonium und das unablässige Registrieren von neuen, möglichst befremdenden Klangkombinationen setzen dem französischen Romantiker eine Maske auf, die partout nicht zu ihm passen will. Das aufzubauende Gebäude zerbröckelt, Strukturen schwinden ins Unwillkürliche, das fratzenhaft Demonstrative läßt die nach Hollywood transplantierte Pariser »Belle Epoque« eher grinsen als strahlen.
Bachs Musik ist da weit weniger zerbrechlich, wenn auch nicht gerade unverwüstlich. Hier kann der Tastenvirtuose nach Belieben zupacken, mal verträumt auf der Stelle treten, gerne auch mit Überschall durch die Partitur fetzen und immer wieder das gewohnte Plenum-Spektrum aufreiben zugunsten skurriler Mischungen. Spannungen aufbauen und bis zum krönenden Ende aufrechterhalten, das ist nicht so Carpenters Sache, der Weg ist das Ziel und da soll das Publikum seine blauen Wunder erleben, meistens indem in der Komposition enthaltene Einzelheiten mit gehörigem Nachdruck überbelichtet werden.
Mit Moussorgskis »Bilder einer Ausstellung« jedoch kommen wir zur Glanzleistung des Abends, die dem zur Selbstdarstellung neigenden Performer den größtmöglichen Spielraum bietet. Auf diesem weit ausladenden Jahrmarkt alles Menschlichen, seiner Charakterzüge und seiner Eitelkeiten, darf das überdimensionierte Ego Cameron Carpenters sich austoben und die Mehrdeutigkeit der »Exhibition« unbegrenzt ausschöpfen.
Ganz im Sinne eines Jean Guillous läßt Cameron den Pfeifenwald der Orgel nie einheitlich streng sondern wie erkennbar menschliche Gebilde auftreten, mit ihren typischen Tücken und verschlagenen Listen, mit ihrem Gejammer und Gezeter, mit allen Verzerrungen, die die Welt derart lebhaft und einfallsreich erscheinen lassen. Die allgegenwärtig plärrenden Zungenstimmen im Pedal sowie der zugespitzte Spielimpuls lassen den Besucher dieser Ausstellung nie zur Ruhe kommen, umso mehr die rhythmische und klangliche Unstetigkeit der Promenade auch nicht als Aufatmen zwischen den betrachteten Bildern zu werten ist. Und die von Moussorgski vorgeschriebene »Con Grandezza« beim Durchschreiten von »Das große Tor von Kiew« klingt hier, wohl mit gutem Grunde, überhaupt nicht triumphierend, eher bescheiden und beklommen!