Leitartikel14. September 2021

Kinderrechte und staatliche Verpflichtungen

von Alain Herman

Die Absichtserklärung der Regierung und der parlamentarischen Kommissionen, die Kinderrechte als subjektive Grundrechte in die Verfassung einzuschreiben und damit den Empfehlungen des UNO-Ausschusses für die Rechte des Kindes nachzukommen, kann nur begrüßt werden. Der Ombudsman für Kinder und Jugendliche fordert in diesem Zusammenhang mit Recht, dass die Kinderrechte und der Vorrang des Kindeswohls auf alle Lebensbereiche übertragen werden müssen.

Wie sieht die bisherige Bilanz des von einer liberalen Regierung geführten Staats bezüglich des sozialen Wohlergehens und der gesellschaftlichen Integration von Minderjährigen, insbesondere aus einkommensschwachen Familien, aus? Mager! Wozu diente die Kürzung des Kindergelds? Welche durchdachten Nachhilfekonzepte bestehen für Schüler mit Entwicklungs- und Lernschwierigkeiten? Was wurde bisher gegen die hohe Zahl Schulabbrecher unternommen? Welche kostenlosen Ernährungs- und Lebenshygiene-Angebote wurden an den Bildungsinstitutionen ins Leben gerufen? Was gedenkt der Staat zu tun, um allen Kindern die Chance auf Teilnahme an kulturell hochwertigen Programmen zu bieten und sie damit wenigstens teilweise gegen die idiotisch-menschenunwürdige Gewalt- und Konsumkultur des Kapitalismus zu immunisieren?

Pflicht- und Verantwortungsgebot seitens der Minderjährigen erstreckt sich auch auf die Außenpolitik eines Staates. Welche Dienste hat der Staat bei seinen Schützenhilfe-Engagements im Rahmen der imperialistischen NATO-»Missionen« den Kindern in den Kriegsgebieten erwiesen?

Der von bürgerlichen Parteien geleitete kapitalistische Staat hat sich auf diesen Gebieten immer aus der Verantwortung gezogen. Die Initiative wird zumeist Vereinen und Verbänden überlassen. Deren Aktionsradius ist allerdings begrenzt. Weitaus schlimmer wiegt die Autonomie- bzw. Privatisierungspolitik der aktuellen Regierung im Bildungs- und Erziehungswesen. Die Konkurrenzsituation zwischen den öffentlichen Schulen ist nicht im Sinne der Heranwachsenden. Angesichts des rasant wachsenden Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital sowie der damit einhergehenden Verschärfung der Armut kann der Staat seinem Auftrag als Garant des Kindeswohls nur durch eine einheitliche, rein öffentliche und konsequent sozial ausgerichtete Politik gerecht werden.

Was kann eine Verfassungsmodernisierung im Sinne der Kinder reell bewirken? Die Erwartungen in die Wirkungsmacht des bürgerlichen Rechtswesens sollten nicht zu hoch angesetzt werden. In kapitalistischen Staaten sind Gesetze so weiterentwickelt worden, dass sie die sich dialektisch verändernden ökonomischen Verhältnisse immer wieder neu zum Ausdruck bringen – einerseits um eben diese Verhältnisse zu fixieren, andererseits um die Herrschaft der kapitalistischen Klasse geschickt verklausuliert auf dem Papier zu verewigen. Der moderne bürgerliche Staat versucht, die juristischen Rahmenbedingungen, die von der Verfassung vorgegeben werden, weitestgehend widerspruchsfrei zu halten, um sich nicht »selbst ins Gesicht« zu schlagen, wie Friedrich Engels schrieb.

Ein allzu fortschrittliches und sozial gestaltetes rechtliches Rahmenwerk könnte den Staat des Kapitals und dessen politische Vertreter auf Parlaments- und Regierungsebene in eine gewisse Bringschuld manövrieren – zumindest juristisch. Man muss also davon ausgehen, dass im neuen Konstitutionstext der Abschnitt zu den Kinderrechten so formuliert werden wird, dass der sakrosankte kapitalistische Staat nicht aufgrund von Pflichten, die seinem Wesen widersprechen, formal ins Wanken gerät.

Alain Herman