Die Legende von der deutschen »Staatsräson«
Der Berliner Politikwissenschaftler Martin Wagener erläutert in einem Gastkommentar für die »Neue Zürcher Zeitung« (NZZ) am Dienstag vergangener Woche »Was Staatsräson heißt«. Seine Antwort: »Im Ernstfall müßten deutsche Streitkräfte zugunsten Israels intervenieren.«
Bezugspunkt ist die Rede von Angela Merkel am 18. März 2008 in der Knesset: »Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.«
Wagener meint, diese Heiligsprechung habe »lediglich zusammengefaßt, was bereits seit 1949 Bestandteil deutscher Außenpolitik ist.« Für ihn hat die DDR offensichtlich nicht existiert. Vor Merkel hatte sie der damalige Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel, Rudolf Dressler (SPD), 2005 verkündet, sie steht im Koalitionsvertrag vom 24. November 2021, in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« vom Juni und in der Rede von Kanzler Olaf Scholz, gehalten am 17. Oktober in Tel Aviv.
Zwar gebe es, so Wagener, »immer wieder« Streit – »bei Themen wie der Zweistaatenlösung, den jüdischen Siedlungen im Westjordanland und dem oft als überzogen wahrgenommenen Vorgehen Israels bei der Bekämpfung seiner Gegner, jüngst insbesondere wegen der Justizreform« –, aber die deutsche Unterstützungsbereitschaft sei »dadurch nie beeinträchtigt« worden. Eigentlich war es also kein Streit.
Wagener korrigiert sich selbst, daß es um deutsche Intervention in Nahost gehe. Zentral ist nach ihm: »Die sechs U-Boote der Dolphin-Klasse, die vermutlich die nukleare Zweitschlagfähigkeit des Landes absichern, sind von der Bundesregierung in erheblichem Umfang mitfinanziert und in norddeutschen Werftanlagen gebaut worden. Das gilt auch für die vier Korvetten der Saar-6-Klasse, die im Kampf gegen die Hamas eingesetzt werden. 2022 wurde zudem die Lieferung von drei U-Booten der neuen Dakar-Klasse vereinbart; erneut wird ein Teil der Kosten übernommen. Daß sich die Nachrichtendienste der beiden Seiten austauschen, darf angenommen werden.«
Staatsräson läßt sich demnach übersetzen mit: Die Bundesrepublik Deutschland hilft Israel, seine Atombomben einzusetzen, wenn es das wünscht. Wie Wagener darauf kommt, daß das nur für eine »Zweitschlagfähigkeit« gilt, steht in seinem Artikel nicht. So wie Benjamin Netanjahu kurz vor dem 7. Oktober in der UNO-Generalversammlung eine Nahost-Landkarte zeigte, auf der Palästina nicht vorkam, so hat er des öfteren mit der Vernichtung eines möglichen iranischen Atomarsenals gedroht, das dabei jeweils in sechs Monaten einsatzbereit sein sollte. Israel ist allerdings bis heute der einzige atomar bewaffnete Staat im Nahen Osten.
Am vorigen Montag, einen Tag vor Wagener, legte übrigens der US-amerikanische Diplomat David H. Rundell ebenfalls in der »NZZ« dar, »Warum die Saudi Frieden wollen« – nämlich seit dem Treffen von Franklin D. Roosevelt und dem saudischen König Abdelaziz im Jahr 1945. Es ging laut Rundell weniger um Öl als um Palästina und die Frage, ob die Saudis eine Umsiedlung jüdischer Flüchtlinge aus Europa dorthin unterstützen würden. Abdelaziz habe gesagt: »Die Wiedergutmachung sollte durch den Verbrecher erfolgen, nicht durch Unbeteiligte. Welchen Schaden haben die Araber den Juden in Europa zugefügt?«
Roosevelt und Abdelaziz konnten nicht ahnen: Deutsche Staatsräson ist »Wiedergutmachung« durch Träger für Israels Atomwaffen. In den Händen Netanjahus und seiner faschistischen Minister. 2012 schrieb Werner Pirker, Kommentator der Tageszeitung »junge Welt« (1947–2014), zur Staatsräson-Legende, daß »Deutschland mit Israel als seinem Gegenüber wieder zu einem führenden Akteur imperialer Gewaltpolitik geworden ist.« Darum geht’s.