Ausland06. Mai 2019

Vor 65 Jahren:

Die Schlacht um Dien Bien Phu

Paris kalkulierte den Einsatz der Atombombe ein

Als der Chef des französischen Generalstabes, Paul Ely, am 20. März 1954 nach Washington flog, glich das einem Bittgang nach Canossa. Eine Woche vorher hatte der Befehlshaber der Vietnamesischen Volksarmee, General Vo Nguyen Giap, zum Sturm auf die französische Dschungelfestung im Tal von Dien Bien Phu im nordwestlichen Bergland Vietnams angesetzt und den er­sten der sechs Stützpunkte, das Außenfort »Beatrice«, in nur zwei Tagen eingenommen. Vor dem Abflug aus Paris hat Ely noch erfahren, daß Giap zwei weitere Stützpunkte und eine Landebahn für Flugzeuge erobert hatte.

Die Hälfte der Befestigungen, der ganze nördliche Cordon, befand sich damit in der Hand der Volksarmee. Fast alle Offiziere waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten. 200 Thai-Söldner hatten sich ergeben. Ein zur Verstärkung aus Hanoi angeflogenes Fallschirmjägerbataillon erlitt so starke Verluste, daß es kaum noch Kampfwert besaß. Es ging für Frankreich um Sieg oder Niederlage in der 1946 begonnenen kolonialen Wiedereroberung des 1945 unabhängig gewordenen Vietnam.

Hilfe aus den USA

Frankreichs Kriegsmini­ster Jean Pleven hatte seinen Generalstabschef beauftragt, den USA reinen Wein einzuschenken, um eine »entscheidende Aufstockung« ihrer Hilfe auszuhandeln. Bereits seit 1950 hatten die USA Frankreich umfangreiche neue Kampftechnik, vor allem Flugzeuge, geschickt. In Saigon war eine »Militärische Unterstützungs- und Beratergruppe« (MAAG) mit mehreren Hundert Mann stationiert. Das reiche nicht mehr aus. General Ely sollte in Washington klar machen, daß »wir Dien Bien Phu und ganz Indochina verlieren, wenn die Amerikaner nicht eingreifen«. Es gehe nicht mehr nur um Munition und Flugzeuge. Man brauche Truppentransporter mit Infanterie, Artillerie, Fallschirmtruppen, B-29-Bomber. Kriegsminister Pleven schloß eine Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete ein.

In Washington wurde Ely vom Chef der Vereinigten Stabschefs, Admiral Radford, empfangen. Er hatte die 7. USA-Flotte kommandiert, war engster Vertrauter McArthurs, des USA-Oberbefehlshabers in Südkorea, und Präsident Dwight D. Eisenhowers Berater in Asienfragen. Im Pentagon gehörte er zu den Hardlinern. Nach dem Eingreifen der Chinesen in Korea hatte er über der Mandschurei ein paar Atombomben abwerfen wollen. Eisenhower, selbst Militär, wollte ein derartiges Risiko, das Moskau hätte auf den Plan rufen können, nicht eingehen. Auch jetzt befürchteten Regierungskreise, so Radfort, »eine massive Aufstockung« der US-amerikanischen Hilfe in Indochina könnte dort, ähnlich wie vorher in Korea, zum Eingreifen der Chinesen führen.

Eisenhower hat eigene Pläne

Die USA waren aber nicht untätig geblieben. Noch vor Elys Eintreffen hatten C-119-Flugzeuge begonnen, Napalm auf die Belagerer von Dien Bien Phu abzuwerfen. Jede Maschine transportierte etwa sechs Tonnen. Es waren Restbestände aus dem Korea-Krieg, die jetzt verbraucht wurden und sie kosteten die Franzosen natürlich gute Dollars. Der Gastgeber äußerte schließlich, daß er dafür wäre, »den großen Knüppel« anzuwenden, worunter der Einsatz der Atombombe zu verstehen war. Unter der Codebezeichnung »Volture« liefen dazu auch bereits Planungen für eine Operation »Geier«. Um sie zu beginnen, müsse die französische Regierung ein »offizielles Ersuchen« stellen.

Am nächsten Tag wurde General Ely von Eisenhower empfangen. Es ist überliefert, daß der USA-Präsident der Meinung war, die Franzosen sollen sich in Indochina ruhig verschleißen. Vietnam würde dann zu einer leichten Beute der USA werden. Er hütete sich natürlich, gegenüber Ely anklingen zu lassen, daß die Franzosen sich mit ihrer Niederlage abfinden müßten. Das sollte Außenminister Foster Dulles ihnen beibringen. Eisenhower sicherte zu, den Einsatz von B-26-Bombenflugzeugen mit USA-Piloten über Dien Bien Phu zu verstärken, ebenso die Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub zu erhöhen und zwar »bis zu der von unseren französischen Verbündeten gewünschten Grenze«. Es könnte nicht schaden, wenn die Air-Force-Piloten noch einige Erfahrungen sammelten, bevor dieser französische Krieg zu Ende geht, soll Eisenhower intern geäußert haben.

Zurück in Paris wurde Ely mit der Realität konfrontiert. Zwei weitere Stützpunkte waren gefallen. Kurz darauf nahm die Volksarmee die Basis »Huguette« mit dem Flugplatz ein. Der Abwurf von Lastenfallschirmen klappte immer seltener, denn die vietnamesische Flak beherrschte inzwischen den ganzen Talkessel.

Churchill lehnt ab

General Vo Nguyen Giap stand nur noch 1.500 Meter vor den zentralen Befestigungen. Schneller als in Washington erwartet übermittelte Paris Eisenhower die Bitte, unverzüglich die Operation »Geier« auszulösen. Die USA mußten nun Farbe bekennen und schoben dazu als Sündenbock den britischen Premierminister Churchill vor. Außenminister Dulles teilte dem französischen Botschafter in Washington, Henri Bonnet, mit, daß für einen Atombombeneinsatz laut Vereinbarungen mit Britannien dessen Zustimmung erforderlich sei. Churchill aber lehne ab.

Der tiefere Hintergrund war, daß Washington das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes nicht eingehen wollte. Als ihre eigene militärische Situation später Ende der 60er Jahre in Vietnam immer auswegsloser wurde, erwog das Pentagon durchaus, kleine Atomwaffen gegen Nordvietnam und auch gegen die FNL in Südvietnam einzusetzen. Lediglich die Gegenschlagkapazitäten der UdSSR sorgten dafür, daß die Politiker dem nicht zustimmten.

Kämpfe um jeden Bunker

Kommandant der waffenstarrenden Dschungelfestung war der Oberst der Panzertruppen mit dem langen Namen Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries. Er galt als ein im Kolonialkrieg erfahrener Kommandeur, der über 16.000 Mann bester Truppenteile mit 100 gepanzerten Fahrzeugen verfügte. Es waren kriegserfahrene Kolonialbataillone, darunter fast die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division »Charlemagne« oder der »Legion des Volontaires Francais contre le Bolchevisme« angehört hatten. Er wurde durch 170 Kampfflugzeuge unterstützt, die mit Napalm, Bomben und Bordwaffen die Stellungen der VVA angriffen.

Giap hatte vor Dien Bien Phu zwei Infanteriedivisionen, zwei Regimenter, zwei Abteilungen 10,5-Zentimeter-Haubitzen und zwei weitere Abteilungen 7,5-Zentimeter-Kanonen, dazu ein Flak- und ein Pionierregiment, insgesamt zirka 35.000 Mann zusammengezogen. Für die Versorgung und den Transport des schweren Kriegsgeräts standen der Vietnamesischen Volksarmee noch Zehntausende Helfer aus der Bevölkerung zur Seite.

Berichte haben den Eindruck erweckt, die Festung sei Giap nach Monate langer Belagerung wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen, Das entsprach absolut nicht der Realität. Die Angreifer hatten bis fünf Kilometer Gelände zu überwinden. Dabei lagen sie unter dem Feuer der Artillerie und der Infanteriewaffen des Gegners. In den Gräben kam es zu erbitterten, auch für die Volksarmee verlustreichen Nahkämpfen. Um einzelne Bunker und Gebäude fanden tagelange Kämpfe statt.

Um den Mythos von der heldenhaft kämpfenden Besatzung in Dien Bien Phu hochzuhalten wurde De Ca­stries zum Brigadegeneral befördert, er und seine Besatzung in einem Tagesbefehl »leuchtende Beispiele« der »Verteidigung der Ehre Frankreichs« genannt. Gleichzeitig erging Order, nicht zu kapitulieren. De Castries umging sie, indem er am 7. Mai über Funk befahl, keinen Widerstand mehr zu leisten. Auf seinem Bunker ließ er dennoch ein großes weißes Bettlaken ausbreiten. Ein vietnamesischer Zugführer nahm ihn mit seinen Offizieren gefangen. Auf dem Bunker wurde die rote Fahne mit dem gelben Stern aufgezogen.

»Valmy in Vietnam«

Nach 55 Tagen war die Schlacht um Dien Bien Phu zu Ende. Die Niederlage läutete das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam und in ganz Indochina ein. Auf französischer Seite kostete sie noch einmal 2.200 Tote, auf vietnamesischer Seite rund 8.000. Insgesamt fielen während des Kolonialkrieges schätzungsweise 92.000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der Marionettenarmee mitgerechnet, 466.172 Mann.

Auf vietnamesischer Seite kamen im Krieg gegen die französische Kolonialmacht über 800.000 Menschen um, ein großer Teil Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen. Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte General Giap gegenüber »Le Monde«: „Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und die schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten.«

Gerhard Feldbauer

Dien Bien Phu am 7. Mai 1954: Die vietnamesische Fahne über dem französischen Bunker