Ausland18. April 2024

Die uralte Macht am Nil

Ägyptens schwieriger Kampf gegen Kolonialismus und USA-Hegemonie

von Klaus Wagener

Ägypten beherbergt eine der ältesten Kulturen der Menschheit. Funde von Steinwerkzeugen weisen auf die Existenz von Homines vor mehr als einer Million Jahren hin. Schon während der letzten Eiszeit, die vor 11.700 Jahren endete, ermöglichten der Fischfang und das wärmere, regelmäßig überschwemmte fruchtbare Land am Nil erste Formen von Seßhaftigkeit, Keramikherstellung und Viehhaltung. Vor 5.100 Jahren erreichte die erste Herrscherdynastie die Vereinigung Ober- und Unterägyptens. Palastbau, die Entwicklung von Schrift und Verwaltung, Bootsbau, Kupferverarbeitung und ausgedehnte Grabanlagen kennzeichnen diese Phase. 26 Dynastien später, im Jahr 525 vor unserer Zeitrechnung, wurde Ägypten vom persischen Großreich erobert, welches sich binnen kurzer Zeit von Mazedonien bis zum Indus ausbreiten konnte. Im Jahr 323 v.u.Z. übernahm Alexander der Große Ägypten ohne Kampf. Nach Alexanders Tod konnte sich sein General Ptolemaios I. als Herrscher des reichen Landes durchsetzen. Die Ptolemäer-Dynastie regierte das Land bis zum Jahr 30 v.u.Z.; die letzte Ptolemäerin, Kleopatra, beging nach der Niederlage in der Schlacht von Actium Selbstmord und Ägypten wurde eine Provinz des expandierenden römischen Weltreichs.

Abhängigkeit

Damit war die mehrtausendjährige Phase ägyptischer Kultur, die so großartige Bauten wie die Tempel in Luxor, Abu Simbel oder Karnak, die Totentempel der Hatschepsut und die Pyramiden von Gizeh hervorgebracht hatte, endgültig Geschichte. Als römische, später byzantinische (oströmische) Provinz hatte das Land vor allem den Interessen Roms und Konstantinopels zu dienen.

Ähnlich fremdbestimmt war die Lage in den Jahren der muslimisch-arabischen Expansion, die das Land seit dem Jahr 641 in verschiedenen Formen und mit kleineren Rückschlägen beherrschte. 1517 schließlich unterwarf Sultan Selim I. die bis dahin herrschenden Mamluken und machte Ägypten zu einem osmanischen Vasallen, bis 1798 mit dem Einmarsch Napoleon Bonapartes sukzessive die europäische Dominanz in der Region begann.

1805 hatte Britannien mit der Schlacht bei Trafalgar die Herrschaft über die Weltmeere errungen und begann, Ostafrika »von Kairo bis zum Kap« zu erobern. Geostrategisch zentral gelegen spielte Ägypten, namentlich nach der Eröffnung des Suezkanals im Jahr 1869, eine wichtige Rolle im britischen Weltherrschaftskonzept. Zwar konnte Muhammad Ali Pascha in Ägypten ab 1805 eine gewisse Selbstständigkeit erreichen und zunehmend selbstbewußt agieren, doch der Bau des Suezkanals hatte das Land in die Abhängigkeit ausländischer Investoren getrieben. Nachdem Britannien 1875 durch den Kauf der Kanalaktien faktisch die Kontrolle über das Land errungen hatte, besiegelten Interventionstruppen 1882 auch militärisch die britische Herrschaft – trotz des Fortbestehens eines formal selbstständigen Königreichs.

Koloniale Befreiung

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet das europäische Kolonialsystem ins Wanken. Der Verlust der »Kronkolonie« Indien 1947 machte die dramatische Schwäche des British Empire deutlich. In den drei Jahrzehnten nach 1945 erkämpften die meisten afrikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit. 1952 stürzte das ägyptische Militär unter Gamal Abdel Nasser König Faruk I., der von vielen ohnehin nur als britische Marionette wahrgenommen worden war. Nasser verfolgte neben der nationalen Unabhängigkeit weitreichende Pläne. Er strebte einen Zusammenschluß der arabischen Staaten an und verstaatlichte den Suezkanal, die Einnahmen wurden in die Entwicklung des Landes investiert.

Die Suezkrise 1956 wirkte als Katalysator dieser Postkolonialkonflikte. Britannien, Frankreich und Israel hatten sich verbündet, um Nasser zu stürzen und die Kanalverstaatlichung rückgängig zu machen – beides gelang nicht. Britannien und Frankreich hatten ihren machtpolitischen Zenit längst überschritten. Das als Frontstaat des Westens installierte zionistische Israel hatte seine volle Kampfkraft noch nicht erreicht.

Die Konfrontationspolitik des Westens stellte die antikolonialen Kämpfer vor die Notwendigkeit, sich der Sowjetunion zuzuwenden und alternative Bündnisse zu schaffen. Nasser initiierte mit Josip Broz Tito (Jugoslawien), Jawaharlal Nehru (Indien), Achmed Sukarno (Indonesien), Kwame Nkrumah (Ghana) und anderen die Bewegung der antiimperialistischen blockfreien Staaten (NAM) – in gewisser Weise ein Vorläufer des BRICS-Bündnisses. 1955 fand im indonesischen Bandung die erste Konferenz mit Delegierten aus 29 Staaten statt.

Ähnlich antikolonial waren die Intentionen bei der Renaissance des Panarabismus. Der war im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Hegemonie des Osmanischen Reiches entstanden. Nasser sah wie viele andere im Panarabismus die Möglichkeit, den imperialen Ansprüchen des Westens entgegentreten zu können. Dieser reagierte mit einer Strategie der Islamisierung, der Mobilisierung seiner halbfeudalen Vasallen und der Aufrüstung Israels. Zu den Muslimbruderschaften hatten schon die Briten seit Ende der 20er Jahre Beziehungen. Nach dem frühen Tod Nassers 1970 konnte das USA-Imperium den sowjetischen Einfluß zurückdrängen und Ägypten unter Anwar as-Sadat und Husni Mubarak wieder unter seine Kontrolle und in eine Allianz mit Israel zwingen.

Neokoloniale Abhängigkeit

Im »Arabischen Frühling« – als es darum ging, nach den berechtigten Protestaktionen die US-amerikanische Hegemonie in der Region wiederherzustellen – setzte man durchaus auch wieder auf die »militärische Lösung«. In Ägypten wurde der gewählte, aber den Muslimbruderschaften nahestehende Präsident Mohammed Mursi von General Abdel Fattah al-Sisi, einem treuen Gefolgsmann Washingtons, in einem blutigen Putsch ausgeschaltet. Die USA investierten Milliarden in Ägyptens Loyalität.

Angesichts des israelischen Völkermords in Gaza und des sich beständig ausweitenden Konflikts in der Region stellt sich für viele Staaten – gerade auch für die neuen BRICS-Mitglieder Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate (VAE) und Ägypten – die Frage, wo ihre Interessen und Loyalitäten wirklich liegen. Kann eine offene oder verdeckte Kooperation mit Israel und dessen Washingtoner Paten wirklich eine Perspektive für die arabischen Staaten darstellen? Der von den USA auf Saudi-Arabien, die VAE und Ägypten ausgeübte Druck zur »Normalisierung« des Verhältnisses zu Israel ist enorm. Alle drei haben sich in dieser Frage – noch – nicht definitiv entschieden. Die brutale Entwicklungsdynamik wird ihnen nicht ewig Zeit lassen.

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Ägyptens Ökonomie

Seit der Neolithischen Revolution (Seßhaftigkeit, Ackerbau, Tierhaltung) wurde Ägyptens Ökonomie von der Landwirtschaft beherrscht. Das warme Klima ermöglichte drei Ernten pro Jahr. Daneben gab es Flachs, Papyrus, Steinbrüche, reiche Kupfer- und Goldvorkommen, was die Produktion von Stoffen, Papier, Werkzeugen, Gebäuden, Keramik und Schmuck ermöglichte.

So waren schon früh weitreichende und intensive Handelsbeziehungen mit erheblichen Überschüssen möglich, die rare Produkte wie Eisen, Silber, Holz und Gewürze ins Land brachten. Der hohe Stand der Wissenschaften und der Handwerkskunst hat sich in den Palast- und Tempelbauten, Grabbeigaben, Skulpturen und Pyramiden des Alten Ägypten verewigt. Das souveräne Ägypten war eines der reichsten Länder der Frühantike.

Ab den 1830er Jahren wurde begonnen, auf ausgedehnten Plantagen in großem Maßstab Baumwolle für die britische Textilindustrie zu produzieren – ein Verdrängungsprozeß, der zahllose Kleinbauern ins Elend stürzte und das Land ökonomisch immer abhängiger machte. Erst die beiden Weltkriege, in denen Ägypten wegen seiner strategischen Lage in den militärischen Konzepten der Imperialisten eine wichtige Rolle spielte, brachten einen deutlichen Industrialisierungsschub.

Wirklich aufwärts ging es allerdings erst nach der Revolution von 1952. Massive Infrastrukturmaßnahmen wie der Assuan-Damm und planwirtschaftliche Wirtschaftsmodernisierung sorgten für ein enormes Wachstum. Die antinasserische »Korrektive Revolution« 1971 beendete den Reformprozeß in weiten Bereichen, öffnete das Land für das angloamerikanische Finanzkapital und mündete schließlich 1977 in blutige »Brotunruhen«. Die Handelsdefizite führten allerdings zu problematischen Schulden von aktuell 88,5 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Auch die Inflationsrate von rund 35 Prozent schränkt Ägyptens Manövrierfähigkeit deutlich ein. Der Gini-Einkommens-Koeffizient liegt bei mittleren 0,32, der für Vermögen allerdings bei 0,8. Etwa ein Drittel der Ägypter lebt unter der Armutsgrenze.

Nach Kaufkraft (PPP) wird das ägyptische BIP im laufenden Jahr das größte Afrikas sein. Zur Wirtschaftskraft trägt die Landwirtschaft nur noch rund elf Prozent bei, die Industrie rund 35 Prozent. Das Rückgrat der Wirtschaft bildet die staatliche Öl- und Gasindustrie. Die Einnahmen daraus repräsentieren etwa 14 Prozent des BIP. Nicht unerheblich sind die Einnahmen aus dem Betrieb des Suezkanals: Sie betrugen 2023 fast zehn Milliarden US-Dollar.

Die massiven Handelsdefizite Ägyptens resultieren aus der neokolonialen Abhängigkeit. Im vergangenen Jahr importierte das Land Waren im Wert von über 70 Milliarden US-Dollar. Die Exporteinnahmen lagen bei weniger als der Hälfte. Hauptexportstaaten sind die USA und die Türkei, Griechenland, Italien, Indien und Saudi-Arabien. Ägyptens Importe kommen vor allem aus China, gefolgt von Saudi-Arabien, den USA, Rußland, der Türkei, den VAE und Deutschland.