Grenzen der Kritik
An Kritik fehlt es in Luxemburg nicht. Aber sie bewegt sich meist innerhalb jener Grenzen, die den Grundkonsens nicht berühren. Wer ernsthaft über Machtverhältnisse spricht, stößt schnell an die unsichtbare Schwelle des Sagbaren. Die grundlegenden politischen Strukturen bleiben dabei häufig unberührt. Umso bemerkenswerter ist es, wenn ein Journalist versucht, über das gewohnte Meinungsspektrum hinauszugehen und eine tiefere Reflexion über die Situation der parlamentarischen Demokratie anzustoßen.
Ein solcher Versuch findet sich im Kommentar »Ein Parlament ohne Selbstbewusstsein« von Laurent Schmit (veröffentlicht am 22. Juli 2025 auf Reporter.lu). Schmit greift dort Aussagen von Parlamentspräsident Claude Wiseler auf, der dem Parlament ein mangelndes Selbstbewusstsein attestiert hatte. Begriffe wie Mut, Rückgrat oder Empörung, die aus einem psychologischen Repertoire stammen, werden jedoch auch kritisch von Schmit beleuchtet. Zu Recht stellt er infrage, ob solche Diagnosen geeignet sind, politische Funktionsprobleme zu beschreiben. Denn Sie individualisieren systemische Defizite und lenken den Blick auf die Persönlichkeitsstruktur politischer Akteure statt auf institutionelle Bedingungen.
Laurent Schmits Analyse enthält zweifellos überzeugende Momente diskurskritischer Reflexion. Ihm gelingt es, eine rhetorische Verschiebung sichtbar zu machen, in der strukturelle Schwächen auf psychologische Kategorien zurückgeführt werden. Doch genau an dieser Stelle bricht die Analyse ab. Trotz der problematisierten Psychologisierung kehrt der Kommentar am Ende selbst zu moralisierenden Deutungen zurück. So ist etwa vom »Rückgrat« einzelner Fraktionen oder einem »Funken Selbstbewusstsein« die Rede. Damit reproduziert der Text überraschend jene Haltung, die er eingangs kritisiert hatte.
Was so ausgespart bleibt, ist jede Form der prinzipiellen politischen oder ökonomischen Kontextualisierung. Denn die Transformation westlicher Demokratien seit den 1990er Jahren ist von einem tiefgreifenden institutionellen Wandel geprägt. Der Handlungsspielraum parlamentarischer Gremien wurde in vielen Ländern durch eine politische Ökonomie des Wettbewerbsstaats eingeschränkt. Wie der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck gezeigt hat, ging diese Entwicklung mit einer Verlagerung demokratischer Entscheidungsprozesse in technokratische, oft intransparente Räume einher. Standortlogik, Haushaltsdisziplin und supranationale Koordination haben deliberative Verfahren an den Rand gedrängt. Parlamente wurden zunehmend zu Absegnungsinstanzen exekutiv getroffener Entscheidungen.
Auch Luxemburg ist von dieser Dynamik betroffen. Die von Laurent Schmit diagnostizierte Entleerung parlamentarischer Wirksamkeit wäre in diesem Kontext zu verstehen. Doch seine Kritik bleibt selektiv. Während die Rolle des Parlaments bei der Rentenreform kritisch beleuchtet wird, bleibt deren Zusammenhang mit anderen Großprojekten wie dem Anstieg der Militärausgaben unerwähnt. Diese politische Blindstelle verweist auf eine selektive Logik öffentlicher Empörung.
Diese Selektivität ist jedoch kein Zufall. Sie bildet den Ausdruck eines außenpolitischen Konsenses, in dem nationale Entscheidungen zunehmend unter sicherheits- und wirtschaftspolitischen Vorgaben supranationaler, nicht demokratisch gewählter Institutionen getroffen werden. Gerade in Fragen der Aufrüstung orientiert sich Luxemburg, wie die meisten anderen EU-Staaten, an der strategischen Ausrichtung der NATO. Programme wie PESCO oder der »Europäische Verteidigungsfonds« fördern diese Entwicklung.
Auch kleinere Staaten wie Luxemburg beteiligen sich aktiv an dieser Reorganisation. Rüstungsvorhaben, Infrastrukturausbau und militärische Kooperationen erfolgen unter dem Primat internationaler Kompatibilität. Die innenpolitische Debatte bleibt dabei strikt technokratisch. Weder die geopolitischen noch die demokratischen Implikationen dieser Entwicklung werden diskutiert.
Dass das Parlament bei der Rentenreform kaum Widerstand leistete, wird als Ausdruck demokratischer Müdigkeit oder als Mangel von »Selbstbewusstsein« gewertet. Dass jedoch milliardenschwere Militärausgaben nahezu ohne öffentliche Debatte beschlossen wurden, verweist auf eine tiefere Verschiebung der politischen Prioritäten. Während sozialpolitische Maßnahmen unter strikter Haushaltsdisziplin verhandelt werden, erscheinen sicherheitspolitisch motivierte Mehrausgaben als nahezu unantastbar. Der Zusammenhang zwischen Einsparungen im Sozialbereich und wachsender Investition in Rüstung gerät dadurch aus dem Blick.
Diese Asymmetrie ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines politischen Feldes, in dem bestimmte Interessen strukturell bevorzugt werden und andere systematisch marginalisiert bleiben. Sie verweist konkret auf den hegemonialen Charakter jenes außenpolitischen Konsenses, der im Namen der »NATO-Kompatibilität« nationale Politik unterordnet. Und diese Unterordnung geschieht nicht aus Sorge um eine abstrakte Sicherheitslage, sondern im Interesse klar benennbarer ökonomischer und geopolitischer Kräfte: jener von den USA geführten Militärallianz, ihrer Rüstungsindustrie und der Sicherung globaler Hegemonie. Luxemburgs bereitwillige Aufrüstung ist kein Ausreißer, sondern Teil einer internationalen Ordnung, in der demokratische Legitimation zweitrangig wird, sobald zentrale Verwertungsinteressen des Kapitals berührt sind.
Diese selektive Empörung verweist auf eine strukturierte Blindheit des kritischen Diskurses. Sie folgt den Linien einer hegemonialen Doxa im bourdieuschen Sinne: einer stillschweigenden Ordnung des Selbstverständlichen, die bestimmt, was als problematisch gilt und was nicht, welche Fragen gestellt werden dürfen und welche als illegitim erscheinen.
In der politischen Kommunikationslandschaft Luxemburgs lässt sich leicht eine funktionale Rollenverteilung beobachten. Medienbeiträge wie der vorliegende erfüllen die Funktion, Kritik zu üben, ohne sie radikal werden zu lassen. Sie markieren Distanz zur politischen Klasse, ohne die Regeln der gemeinsamen symbolischen Ordnung zu verlassen.
Damit bestätigen sie jene Form von Öffentlichkeit, die Pierre Bourdieu (1996) als strukturell asymmetrisch analysiert hat. Eine Öffentlichkeit, in der nicht jeder Diskurs gleich legitim ist und in der bestimmte Formen von Dissens als irrational, populistisch oder schlicht undenkbar gelten. Die Zensur im journalistischen Feld erfolgt nicht durch äußere Verbote, sondern durch die impliziten Regeln und Zwänge seiner eigenen Struktur.
Die journalistische Scheinkritik entfaltet so ihre politische Funktion gerade durch ihre Harmlosigkeit. Sie immunisiert die bestehende Ordnung gegen radikalere Formen des Widerspruchs, indem sie eine kritische Pose einnimmt, die nur dort ansetzt, wo keine systemischen Konsequenzen zu befürchten sind. Kritik wird damit zur Simulation von Opposition und die journalistische Rhetorik der Sorge verkehrt sich in ein affirmatives Ritual der Reproduktion. Sie entlastet das Publikum, indem sie das kritische Denken übernimmt, aber gleichzeitig kontrolliert, wohin es sich richtet.
Solange aber das kritische Denken selbst in den Formen, Formaten und Kategorien operiert, die es zu kritisieren vorgibt, bleibt es im Dienst jener Ordnung, die es zu überwinden gilt. Der Kommentar über das luxemburgische Parlament ist nicht Ausdruck mangelnden demokratischen Bewusstseins, sondern Symptom eines Journalismus, der Kritik nur dort übt, wo sie mit den Erfordernissen der herrschenden Ordnung kompatibel bleibt.
Literatur
Bourdieu, Pierre. (1996). Sur la télévision. Paris: Liber/Raisons d’agir. (Vgl. S. 11-43)
Streeck, Wolfgang. 2015a. Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Streeck, Wolfgang. 2015b. „Wie wird der Kapitalismus enden. Teil I“. Blätter für deutsche und internationale Politik.
Streeck, Wolfgang. 2015c. „Wie wird der Kapitalismus enden. Teil II“. Blätter für deutsche und internationale Politik.