Wird Afghanistan Vietnam 2.0?
Zur Lage in der islamischen Republik nach dem Rückzug der USA- und NATO-Truppen (2. Teil)
Ausgang ungewiß
Die Bundesrepublik Deutschland hatte während ihres 20 Jahre andauernden militärischen »Engagements« am Hindukusch insgesamt 160.000, zuletzt 1.100 Soldaten im Kampfeinsatz. Das haben 59 Soldaten mit ihrem Leben bezahlt. Dieser Bundeswehreinsatz hat seit 2001 mehr als zwölf Milliarden Euro gekostet, teilte das Auswärtige Amt auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag mit. Selbst wenn man von einer Verdoppelung dieser Summe ausginge, läge man nicht falsch – denn die Bundesregierung gibt nicht alle Ausgaben an.
Trotz der finanziellen und menschlichen Verluste ist der jetzige Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) der Ansicht, es sei »nicht umsonst gewesen«, und er kündigte ein weiteres »politisches und finanzielles Engagement Deutschlands« am Hindukusch an. »Der Friedensprozeß braucht einen neuen diplomatischen Push«, meinte Maas. Für das laufende Jahr hat Deutschland 430 Millionen Euro eingeplant, ähnliche Summen sind für die kommenden Jahre vorgesehen. Die Auszahlung wird davon abhängig gemacht, wie sich der »Friedensprozeß« zwischen den Vertretern der Kabuler Regierung und den Taliban entwickeln werde.
Ob die Bundesregierung auch mit einer Taliban-Regierung zusammenarbeiten würde, wird nicht eindeutig erklärt. Vorsichtig optimistisch äußerte sich der pakistanische Außenminister Shah Mahmood Qureshi laut »FAZ« hinsichtlich der künftigen Strategie der Taliban. Sie hätten »durchaus verstanden, daß sich Afghanistan verändert hat. Und daß sie diesen Wandel akzeptieren müssen.« Da die Taliban-Führung ihre Strategie mit der pakistanischen Regierung stets abstimmt, könnte es sein, daß sie neben ihrer militärischen Stärke auch diese Realität in Betracht ziehen würde.
Strategiewechsel der USA
In Afghanistan ist es der USA-Imperialmacht weder um Frauen- noch um Menschenrechte, geschweige denn um das Land an sich gegangen. Ihre strategischen Interessen in der Region, die Umzingelung der Russischen Föderation und ein »Regime Change« im Iran, standen im Mittelpunkt. Das Land am Hindukusch wurde von den USA zu ihrem »unsinkbaren Flugzeugträger« gemacht.
Nun haben sich die Rahmenbedingungen geändert und damit die Prioritäten der USA-Strategie. In absehbarer Zeit wird die Volksrepublik China die USA ökonomisch, aber auch militärisch, wenn nicht überholen, so doch mit ihr gleichziehen können. Ende 2017 wurde in der »Nationalen Sicherheitsstrategie« der USA die VR China als »strategischer Rivale« eingestuft. Die USA werden versuchen, China militärisch zu umzingeln und den Aufstieg des Landes zu einer künftigen Weltmacht wenn nicht zu verhindern, so doch zumindest zu verzögern.
Schon der ehemalige USA-Präsident Barack Obama, dessen Vize Joe Biden war, hatte im November 2011 das »Pazifische Jahrhundert« unter Führung der USA ausgerufen. Diese Strategie ist eindeutig gegen China gerichtet. Für die Realisierung dieser Option haben die USA bereits regionale Militärbündnisse mit Japan, Südkorea, Australien, Philippinen, Thailand, Singapur, Vietnam, Malaysia, Indonesien und der Atommacht Indien geschmiedet. Der regionale Konflikt um das Südchinesische Meer, von dem China 80 Prozent für sich beansprucht und einzelne Inseln besetzt hat, wobei es sich auf »bis 2.000 Jahre zurückreichende historische Argumente« beruft, könnte von den USA als Hebel für einen größeren Konflikt mit der Volksrepublik instrumentalisiert werden.
Afghanistan ist vorläufig abgeschrieben. Die USA wollen ihre Kräfte auf die künftig wichtige geostrategische Region konzentrieren – es beginnt ein »Asiatisches Jahrhundert«. Der Ort, wo um Vormachtstellung gekämpft wird, ist die Region des Pazifischen Ozeans. Die Kräfte in und um Afghanistan werden deshalb abgezogen, um am Pazifik ein Bollwerk gegen China zu errichten.
Bilanz eines Desasters
20 Jahre Krieg der USA und der NATO haben in Afghanistan Verheerungen angerichtet. »Die hehren Ansprüche von einst, die Stabilisierung und Demokratisierung des Landes, sind vergessen. Und die Bilanz ist eine Schmach für die Supermacht, die gewiß nachwirken wird: Mehr als 2.000 Amerikaner haben am Hindukusch ihr Leben verloren. Hinzu kommen mindestens 100.000 tote afghanische Zivilisten«, bilanzierte Thomas Gutschker im April 2021 in der »FAZ«.
Laut einem Bericht des afghanischen Nachrichtensenders TOLO-TV vom 18. April 2021 sollen nach Zählungen der afghanischen und der USA-Regierung sowie der UNO 160.000 Menschen seit 2001 ums Leben gekommen sein. Darüber hinaus wurden »66.000 afghanische Sicherheitskräfte, viertausend internationale Soldaten und 80.000 Islamisten« getötet.
Hinzu kommt, daß aufgrund der Zusammenarbeit und direkten Unterstützung der Warlords durch die NATO-Länder Korruption, Vetternwirtschaft, ethnische Fragmentierung, Drogenanbau und -handel und Machtdemonstrationen bis hin zu Entführungen an der Tagesordnung waren. Der gesamte Staatsapparat sowie die Sicherheitsorgane sind mit dem Virus der Korruption verseucht. Zwangsprostitution, um Posten zu bekommen, ist auf höchster Ebene gang und gäbe. Posten werden wie auf dem Basar gehandelt, für die Stellen mit den höchsten Korruptionsmöglichkeiten wird am meisten bezahlt. Botschafterposten werden für 40.000 US-Dollar angeboten.
Natürlich können Mädchen die Schule besuchen, aber die Absolventinnen finden kaum Arbeit. Die Elite hat längst ihre Dollars nach Dubai transferiert und sitzt nun auf gepackten Koffern. Wer kann, verläßt das Land. 2020 haben »mehr als dreihundert Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben oder ganz das Land verlassen«, schreibt Jan Wiele in der »FAZ«. Diese Frauen haben die meisten Feinde: die Regierung, die Warlords, die Taliban und auch die NATO.
»Das Risiko ist groß, daß die Taliban nach dem Abzug der USA wieder die Macht in Afghanistan an sich reißen wollen. Darauf deutet auch die Zunahme der Gewalt hin. Am meisten wird darunter die Bevölkerung leiden, nicht zuletzt Frauen und Mädchen. Die USA tragen eine große Verantwortung für diese Entwicklung. Die Invasion vor 20 Jahren basierte auf falschen Erwartungen. Zudem ist es in all den Jahren nicht gelungen, für Stabilität zu sorgen und das Land wiederaufzubauen. Ein stabiles und demokratisches Afghanistan bleibt vermutlich eine Utopie«, konstatierte die schwedische Zeitung »Skånska Dagbladet«.
Was wird aus Afghanistan?
Anfang 2021 warnten vom USA-Kongreß eingesetzte Experten der Afghanistan Study Group, »daß ein unüberlegter Abzug zum ‚Kollaps‘ in Afghanistan führen« würde. Das Rückzugsdatum der USA- und NATO-Einheiten liegt nun fest. Wozu sollten die Taliban überhaupt noch mit der Kabuler Seite verhandeln? Wir wissen vieles, aber nicht alles über die USA-Strategie in und um Afghanistan. Dennoch könnte man von folgenden Optionen ausgehen:
Unmittelbar nach dem Rückzug der NATO-Einheiten könnte die politische und militärische Elite Afghanistans die Flucht ergreifen und lieber ein ruhiges und schönes Leben im Exil bevorzugen, als sich auf einen erneuten Krieg mit den Taliban einzulassen – dann wären die Taliban die alleinigen Herrscher des Landes, wie schon ab 1996.
Würde es den USA gelingen, mit vielseitigen finanziellen und entwicklungspolitischen Angeboten die Taliban für eine Koalitionsregierung mit der Kabuler Regierung zu gewinnen, könnte eine für afghanische Verhältnisse relativ reibungslose Transformation stattfinden.
Gelingt dies nicht, würde es sehr wahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg wie 1992 kommen, als Kabul weitgehend zerstört wurde und über 50.000 Menschen ums Leben kamen.
»Nach uns die Sintflut.« Die USA haben augenscheinlich keinen Plan B für Afghanistan, zumindest haben sie einen solchen bisher nicht offengelegt. Fraglich ist, ob es den Afghanen eigenständig gelingen kann, die inneren Verhältnisse zu stabilisieren und so eine friedliche Entwicklung zu ermöglichen. Viel hängt der Politik der imperialistischen Staaten ab, und von deren Bereitschaft, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten Afghanistans aufzugeben.