Schlacht um Mossul
Opfer des Krieges ist wieder in erster Lionie die Zivilbevölkerung
Die Zahl ziviler Todesopfer bei den Luftangriffen der westlichen »Anti-IS-Koalition« steigt dramatisch an. Dies berichten Menschenrechts- und andere Nichtregierungsorganisationen. Demnach attackieren Kampfjets der NATO und ihrer Verbündeten unter anderem Wohnhäuser, Moscheen, Schulen sowie Krankenstationen.
Wie etwa Airwars schreibt, eine Gruppe von Beobachtern, die Angaben über die Bombardements westlicher Streitkräfte in Syrien und im Irak systematisch auswerten, seien bei Luftangriffen von Kampfjets der NATO und ihrer Verbündeten im Rahmen der Rückeroberung Mossuls bis heute mindestens 900 bis 1.200 Zivilisten ums Leben gekommen. Dabei handle es sich lediglich um die für Airwars nachweisbare Zahl ; möglicherweise gebe es »hunderte oder sogar tausende« Opfer mehr.
Laut der Organisation erfolgte der bislang verheerendste Angriff am 17. März, als ein Flugzeug der »Anti-IS-Koalition« ein Wohnhaus bombardierte, auf dessen Dach sich zwei Kämpfer des »IS« aufhielten. Der Fall verdeutlicht, weshalb Airwars zuweilen vorgeworfen wird, zu niedrige Opferzahlen zu verbreiten : Airwars hatte den Angriff zunächst nicht zweifelsfrei zuordnen können und ihn deshalb nur als »umstritten« gelistet ; bis heute spricht die Organisation aufgrund des ihr vorliegenden Datenmaterials von »mindestens 105 toten Zivilisten« , während etwa Human Rights Watch nach ausführlicher Recherche mit »bis zu 200« Todesopfern rechnet.
Die unabhängige Recherchegruppe Iraq Body Count geht sogar davon aus, daß im März und April allein in West-Mossul mindestens 1.117 Zivilisten bei Luftangriffen getötet wurden. Laut Angaben lokaler Behördenmitarbeiter sind mittlerweile 80 Prozent West-Mossuls vollständig zerstört ; im Kampfgebiet eingeschlossene Zivilisten sind dem Hungertod nahe ; mutmaßlich 4.000 Leichen liegen unter dem Schutt zerbombter Häuser und konnten bislang nicht geborgen werden. Man werde die genaue Opferzahl frühestens in mehreren Monaten erfahren, heißt es aus Mossul.
Flüchtlinge bombardiert
Dramatisch gestiegen ist auch die Anzahl der Zivilisten, die den Luftangriffen auf das syrische Raqqa und auf die umliegenden Dörfer zum Opfer gefallen sind. Während die UNO Mitte Juni von »mindestens 300« sprach, konnte Airwars damals bereits »mehr als 700« belegen. Dabei stellte Airwars fest, daß die Zahl der Todesopfer nicht unbedingt mit der Zahl der Luftangriffe korreliert : Während die Zahl der in Raqqa aus der Luft angegriffenen Ziele im März um 39 Prozent gegenüber dem Vormonat zurückgegangen sei, sei die Zahl der getöteten Zivilisten »auf mindestens 275« gestiegen. Beobachter führen dies auf eine Lockerung der USA-Einsatzregeln zurück, die bereits von Präsident Barack Obama im Dezember in die Wege geleitet und nun von Donald Trump ausgeweitet worden sei.
Dabei weist Airwars darauf hin, daß mindestens 80 zivile Todesopfer nachweislich nicht auf das Konto der USA, sondern auf dasjenige ihrer Verbündeten gehen ; diese streiten das allerdings rundweg ab. Airwars zufolge kommt es immer wieder vor, daß Zivilisten auf der Flucht von der »Anti-IS-Koalition« umgebracht werden. So wurden in Raqqa am 5. Juni 21 Zivilisten durch einen Luftangriff getötet, als sie gerade dabei waren, sich per Boot über den Euphrat in Sicherheit zu bringen.
Human Rights Watch berichtet zudem, die »Anti-IS-Koalition« habe in Raqqa ebenso wie in Mossul Phosphorbomben eingesetzt. Der mutmaßliche Einsatz von Phosphorbomben durch die russisch-syrische Kriegskoalition bei der Rückeroberung von Aleppo hatte einen empörten Proteststurm in der westlichen Öffentlichkeit ausgelöst ; von schweren Kriegsverbrechen war die Rede. Vergleichbare Äußerungen unterbleiben jetzt.
Mörderisch gespalten
Während Mossul und in absehbarer Zeit wohl auch Raqqa militärisch vor dem Fall steht, zeichnet sich ab, wovor Kritiker des Krieges seit je warnten : Die tiefe Spaltung der irakischen Gesellschaft, die das Erstarken des »IS« erst ermöglichte, droht nach dem Sieg über den Jihadistenstaat zementiert zu werden. So wird immer wieder berichtet, Sunniten aus Mossul würden auf bloßen Verdacht harten Sanktionen ausgesetzt, sofern ihre Brüder, Söhne oder entferntere Verwandte für den »IS« gearbeitet oder gekämpft hätten. Auf Seiten der Regierung kämpfende Milizen – auch sunnitische – hätten mutmaßlich Dutzende Männer umgebracht, die sie verdächtigt hätten, dem »IS« anzugehören, berichtete etwa Human Rights Watch Anfang Juni. Laut einem schwedischen Medienbericht hat sich ein Angehöriger der irakischen Polizei gebrüstet, 130 tatsächliche oder angebliche »IS« -Männer getötet und 50 von ihnen enthauptet zu haben. Ein Videodokument zeigt, wie irakische Polizisten triumphierend einen abgetrennten Kopf schwenken.
Gleichzeitig erinnern Beobachter daran, daß der »IS« , der jetzt in den Untergrund gedrängt werde, einerseits in den Jahren von 2007 bis 2011 bewiesen habe, daß er unter massiver Repression überwintern und zu geeigneter Zeit wieder ans Licht der Öffentlichkeit treten könne. Andererseits schlage er in elf irakischen und fünf syrischen Städten, aus denen er mit Hilfe der »Anti-IS-Koalition« vertrieben worden sei, schon jetzt wieder zu ; das Combating Terrorism Center an der United States Military Academy (USMA) in West Point habe bis April 1.468 Angriffe in diesen Städten dokumentiert, die dem »IS« zugerechnet würden.
Eine Zeitbombe
Eine Einschätzung, wie sich Mossul nach dem militärischen Sieg über den »IS« entwickeln könnte, bietet ein Blick auf die Großstadt Fallujah, die Ende Juni 2016 mit Hilfe der »Anti-IS-Koalition« von der irakischen Armee zurückerobert worden ist. Selbst nach einem Jahr werden im Schutt immer noch gelegentlich Leichen gefunden, heißt es in einem Bericht. Nur in der Hälfte der Stadt sei bislang Sprengstoff geräumt worden ; Geld zum Wiederaufbau sei nur völlig unzureichend vorhanden. Weiterhin müßten tausende Einwohner in Lagern leben ; viele der Zurückgekehrten litten an Hautausschlag, was sie unter anderem auf die verschossene Munition zurückführten. In Fallujah häufen sich ohnehin Krebserkrankungen, seit die USA-Streitkräfte in den Jahren 2003/2004 dort im Rahmen der Aufstandsbekämpfung Uranmunition eingesetzt hatten.
Gravierend ist, daß auf der einen Seite »IS« -Zellen fortbestehen und schon jetzt zuweilen zuschlagen, auf der anderen Seite aber das Schicksal von 643 Irakern aus Saqlawiya, einer Kleinstadt unmittelbar nordwestlich Fallujahs, immer noch unbekannt ist. Die Männer waren bei der Rückeroberung Fallujahs von Mitgliedern regierungsnaher Milizen verschleppt worden ; es gilt als nicht unwahrscheinlich, daß sie ermordet wurden. Die Wut über ihre Verschleppung sei eine »Zeitbombe« , urteilen Betroffene.
Fluchtabwehrhilfe
Bereits im vergangenen Herbst hat der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit Blick auf Mossul erklärt, es sei »wichtig, jetzt bereits für den Tag danach zu planen« . Dabei hat er auf Hilfsleistungen der Bundesregierung für diejenigen Städte verwiesen, die – wie Fallujah – bereits zuvor dem »IS« entrissen worden waren. Tatsächlich reicht die Summe, die Berlin bereitstellt – laut Angaben des Auswärtigen Amts bis einschließlich April 273 Millionen Euro für humanitäre Hilfe –, bei weitem nicht aus, um den Wiederaufbau des kriegszerstörten Irak ernsthaft voranzubringen : Allein die Summe, die für den Wiederaufbau Mossuls nötig ist, wird auf bis zu 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Mittel genügen allerdings, um einerseits der deutschen Bundesregierung Mitsprache im Irak zu sichern, andererseits die Flucht Hunderttausender nach Europa zu verhindern. Damit hat Berlin seine beiden zentralen Ziele erreicht.
German Foreign Policy
Ein irakischer Polizist in einem Krankenhaus, das von irakischen Sicherheitskräften zurückerobert wurde (Foto : dpa)