»Wertebasierter Völkermord«
Im Südkaukasus droht ein Genozid in Berg-Karabach durch die Regierung Aserbaidschans
Ein früherer Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wirft Aserbaidschan einen Genozid an der Bevölkerung Berg-Karabachs vor. Laut Informationen von Luis Moreno Ocampo, der von 2003 bis 2012 für den IStGH tätig war, führt die seit Ende 2022 von Baku umgesetzte Blockade der international nicht anerkannten De-facto-Republik dazu, daß diese nicht mehr mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt werden kann; Moreno Ocampo beklagt, Aserbaidschan setze die »unsichtbare Waffe« des Hungers gegen die dortige Bevölkerung ein.
Drohender Genozid
Seit dem vergangenen Dezember blockiert Aserbaidschan die abtrünnige Republik Arzach (Berg-Karabach). Eigentlich sollten russische Soldaten den Latschin-Korridor absichern, den letzten verbliebenen Transportweg zwischen der mehrheitlich von Armeniern bewohnten, international nicht anerkannten De-facto-Republik und der mit Arzach informell verbündeten Republik Armenien. Das russische Kontingent wurde seit dem Februar vergangenen Jahres aber radikal verringert.
Im Februar 2023 wies der Internationale Gerichtshofs (IGH) Aserbaidschan an, die Blockade aufzuheben; die Regierung in Baku setzte dies jedoch nicht um. Anfang August veröffentlichte nun der frühere Erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IGStH), Luis Moreno Ocampo, ein Gutachten, in dem er Aserbaidschans Vorgehen als Völkermord durch die »unsichtbare Waffe« des Hungers einstufte.
Hunger als Waffe
Die Lage der Bevölkerung von Arzach ist in der Tat dramatisch. Aufgrund der Blockade fehlt es den rund 120.000 Menschen in der De-facto-Republik unter anderem an Nahrungsmitteln und Medikamenten. Seit Mitte Juni erreicht keine Hilfe des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) das Gebiet; zuletzt konnten keine medizinischen Notfalltransporte mehr den Latschin-Korridor durchqueren. Für rund 2.000 Schwangere gibt es keine medizinische Betreuung mehr, die Apotheken sind leer. Mitte August meldete der armenische Außenminister den ersten Hungertoten aus Arzach; der mittlerweile zurückgetretene Präsident der nicht anerkannten Republik erklärte vergangene Woche, mittlerweile sei jeder dritte Tod in der Region auf Mangelernährung zurückzuführen.
»Partner von wachsender Bedeutung«
Aufgrund der Komplizenschaft der deutschen Bundesregierung mit Aserbaidschan schrieb auf dem Kurznachrichtendienst X (früher: Twitter) der deutsche Oppositionspolitiker Dustin Hoffmann (»Die Partei«) am 30. August von einem »wertebasierten Völkermord«. Die deutsche Zusammenarbeit mit dem autoritären Petro-Regime in Baku reicht tatsächlich Jahrzehnte zurück und wurde zuletzt vom Bundeskanzler noch einmal bestärkt. Bei einem Treffen mit dem aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew im März dieses Jahres nannte Kanzler Olaf Scholz Aserbaidschan einen »Partner von wachsender Bedeutung«.
Bei der Zusammenkunft hatte der aserbaidschanische Staatschef zugesagt, sein Land werde jährlich 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas nach Westeuropa liefern; die aktuelle Liefermenge liegt bei rund 12 Milliarden Kubikmeter. Angesichts des Ukraine-Kriegs steigt die Bedeutung Aserbaidschans für die Bundesrepublik als Erdgaslieferant; die Berliner Regierung ignoriert im Gegenzug die aserbaidschanische Armenienpolitik.
EU-Vermittlung
Im Kontext des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts versucht die EU seit dem vergangenen Jahr, sich durch Vermittlung eine stärkere Rolle im Kaukasus zu verschaffen. Dies brachte bisher keinen Durchbruch; ganz im Gegenteil: Dem für die EU als Vermittler agierenden Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, wird nachgesagt, er schiele lediglich auf einen Friedensnobelpreis. Dabei setze er sich für eine Verhandlungslösung ein, die am Ende auf eine Verrechtlichung der »ethnischen Säuberung« der Arzach-Armenier hinauslaufe: Baku wolle den jungen Teil der Bevölkerung vertreiben, heißt es, während eine geringe Zahl älterer Menschen zurückbleiben solle, damit die aserbaidschanische Regierung behaupten könne, sich um die armenische Minderheit zu »kümmern«. Während die deutsche Bundesregierung die Beziehungen zu Aserbaidschans Regierung forciert, scheint die EU parallel eine »ethnische Säuberung« durch Verhandlungen zu decken.
In dem Bemühen, sich im Kaukasus verstärkt als Ordnungsmacht zu positionieren, hat die EU mittlerweile mehrere Einsätze in Armenien eingeleitet. Im Oktober startete die 40-köpfige »European Union Monitoring Capacity to Armenia«, die die armenisch-aserbaidschanische Grenze von der Seite Armeniens aus überwachte. Im Dezember 2022 brach dann das kurzlebige »EU Planning Assistance Team in Armenia» in den Kaukasus auf.
Wiederum kurz darauf entsandte die EU ab Januar dieses Jahres die »European Union Mission in Armenia« (EUMA). Leiter jener über 100 Personen starken Einheit aus Polizisten und Unterstützungspersonal ist der deutsche Bundespolizist Markus Ritter. Während die deutsche Regierung politisch und ökonomisch die Beziehungen mit Aserbaidschan verbessert, steht auf der armenischen Seite der Grenze eine Polizeitruppe unter Leitung eines Bundespolizisten, die Armenien vor aserbaidschanischen Angriffen abschirmen soll.
»NATO-Schutzschirm«
Nicht nur Berlin pflegt seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich enge Beziehungen zu Baku. Seit dem Jahr 1992 unterhält Aserbaidschan auch offizielle Beziehungen mit der NATO. Durch seine enge Anlehnung an die Türkei profitiert das aserbaidschanische Petro-Regime von einem informellen »NATO-Schutzschirm«. Daneben pflegt Aserbaidschan derzeit auch enge Beziehungen mit Albanien, das 2009 dem westlichen Militärbündnis beitrat. Der aserbaidschanische Staatschef Ilham Alijew erklärte im Juli, die albanisch-aserbaidschanischen Beziehungen seien »exzellent«.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg haben die Kontakte zwischen der NATO-Zentrale in Brüssel und der autoritären Regierung in Baku zugenommen. Diese strebt derzeit keinen Beitritt zu dem nordatlantischen Militärbündnis an, ist aber eines der aktivsten Partnerländer im Rahmen der verschiedenen NATO-Formate für Nicht-Mitgliedstaaten.
»Die drei Brüder«
Geostrategisch ist Aserbaidschan für den Westen auch durch seine Bündnispolitik besonders relevant. Aserbaidschan gehört zu einem Zusammenschluß von Staaten, der informell »die drei Brüder« genannt wird. Er besteht neben dem Kaukasusland selbst aus dem NATO-Mitglied Türkei und dem südasiatischen Pakistan. Pakistan hat 1991 die Unabhängigkeit Armeniens nicht anerkannt, hält seit 2016 gemeinsame Militärmanöver mit Aserbaidschan ab und entsandte während des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 sogar Militärbeobachter in die Konfliktregion Karabach.
Ein neuer Akteur
Deutschlands enge Zusammenarbeit mit Aserbaidschan verkompliziert dabei eine Verbesserung der deutsch-armenischen Beziehungen. Mit dem Amtsantritt des neoliberalen Premierministers Nikol Paschinjan vor fünf Jahren kamen Hoffnungen in Westeuropa auf, Armenien werde sich in Zukunft der EU und der NATO annähern.
Die enge Allianz der NATO mit Aserbaidschan stand solch einer Entwicklung jedoch entgegen. Stattdessen bemüht sich seit einigen Jahren Indien um politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluß im Südkaukasus. So nahm die südasiatische Großmacht im Jahr 2020 Waffenexporte nach Armenien auf und lieferte der Regierung in Jerewan Radar- und Raketensysteme. Die aserbaidschanische Regierung stufte dies als eine »unfreundliche Geste« ein, behauptete, die indischen Waffenverkäufe an Armenien ebneten einer »Militarisierung« Armeniens den Weg und verhinderten »die Etablierung eines lang anhaltenden Friedens im Südkaukasus«.
Mit den traditionell guten Beziehungen Armeniens zu Rußland und Iran und mit den neuerdings erstarkten Beziehungen zu China und Indien ist das Potenzial für einen stärkeren Einfluß der EU in dem Land gering.