Ausland18. Mai 2022

Keine klare Orientierung

Für die Regierungsbildung nach den Wahlen im Libanon wird ein Mediator benötigt

von Karin Leukefeld, Beirut

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Libanon haben sich im Vergleich zu ersten Ergebnissen am späten Montagnachmittag erneut verändert. Anders als von Nachrichtenagenturen zunächst gemeldet, haben sich die maronitisch-christlichen Wähler mehrheitlich nicht für die Libanesischen Kräfte (LF) und Samir Geagea, sondern für die Freie Patriotische Bewegung (FPM) des amtierenden Präsidenten Michel Aoun entschieden. Die FPM konnte 22 Sitze erringen, die LF bleiben mit 18 Sitzen dahinter zurück. Beide Parteien vertreten die maronitischen Christen. Gibran Bassil, Vorsitzender der FPM und auch Schiegersohn des amtieren Präsidenten Aoun, gilt damit als nächster Kandidat für das Präsidentenamt.

Das konfessionelle Wahlsystem im Libanon führt dazu, daß 18 der anerkannten Religionsgemeinschaften zu den Wahlen antreten, die in 15 Bezirken und 2022 zum zweiten Mal auch im Ausland durchgeführt wurden. Das konfessionelle politische System ist eine Hinterlassenschaft der französischen Mandatsmacht (1923-1943), das nach dem Bürgerkrieg (1975-1990) mit dem Taif-Abkommen (1989) fortgesetzt wurde.

Die drei größten Religionen – maronitische Christen, sunnitische Muslime und schiitische Muslime – bekleiden die höchsten politischen Ämter und teilen sich die 128 Sitze im Parlament. 50 Prozent der Parlamentssitze geht an Christen, 50 Prozent teilen sich die sunnitischen und schiitischen Muslime auf. Der Präsident ist laut dem Taif-Abkommen stets ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim.

Die prozentuale Aufteilung der Parlamentssitze spiegelt seit langem nicht mehr die reale religiöse Zugehörigkeit der libanesischen Bevölkerung wider. 2017 waren rund 1,3 Millionen Libanesen Christen, und 2,3 Millionen waren Muslime. Mehrheiten werden nicht nach politischen Programmen, sondern nach religiöser Zugehörigkeit geschaffen, was ein Höchstmaß an Kompromißfähigkeit voraussetzt.

Die Parlamentswahlen am vergangenen Sonntag waren geprägt von der Orientierungslosigkeit der sunnitischen Muslime. Der langjährige Vorsitzende der Mustaqbalpartei (Zukunftspartei) und Ministerpräsident, Saad Hariri, hatte sich Anfang 2022 überraschend aus der Politik und aus dem Land zurückgezogen und lebt heute in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Zukunftspartei wurde aufgelöst.

Die sunnitischen Muslime waren dadurch als politischer Faktor massiv geschwächt. Einige bildeten neue Parteien, andere kandidierten als »Unabängige«, einige von ihnen gingen ein Bündnis mit den Libanesischen Kräften (LF) ein. Saad Hariri selber hatte zum Boykott der Wahlen aufgerufen, und offenbar waren viele diesem Aufruf gefolgt.

Die Wahlbeteiligung insgesamt lag bei 41 Prozent (2018 waren es 49 Prozent), bei den sunnitischen Muslimen lag die Wahlbeteiligung bei weniger als 10 Prozent. Von den schiitischen Muslimen nahmen dagegen durchschnittlich etwa 50 Prozent an der Wahl teil.

Keine der Parteien und Allianzen im neuen Parlament verfügt nach dieser Wahl über eine Mehrheit. Damit wird die Bildung einer neuen Regierung schwierig sein und wird innerhalb des Parlaments einen verläßlichen Mediator benötigen, wofür möglicherweise der Drusenführer Walid Dschumblatt zur Verfügung stehen könnte. Zu befürchten ist, daß – wie schon im Wahlkampf – sowohl die Golfstaaten als auch EU und USA versuchen werden, von außen auf die Regierungsbildung Einfluß zu nehmen. Ähnlich dürfte es dann bei der Neuwahl des Präsidenten aussehen, die im Oktober 2022 vorgesehen ist.