Ibrahim Traoré und der antikoloniale Aufbruch
Burkina Faso, Mali und Niger mobilisieren die Hoffnungen des Kontinents
Unter den Staatsgästen, die an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den Faschismus teilnahmen, stach ein junger Mann in tarnfarbener Militäruniform besonders hervor: Ibrahim Traoré. Traoré, der Präsident von Burkina Faso, war zum zweiten Mal in Rußland. Das erste Mal beim russisch-afrikanischen Gipfel, an dem fast alle afrikanischen Staaten teilgenommen haben. Dieser Gipfel, der am 27. und 28. Juli 2023 während des Expo-Forums in St. Petersburg abgehalten wurde, machte die Bedeutung klar, die einer künftigen engeren Zusammenarbeit von russischer und auch afrikanischer Seite zugeordnet wird. Präsident Putin hatte dort afrikanische Schulden in Höhe von 23 Milliarden US-Dollar gestrichen und großzügige Getreidehilfslieferungen angekündigt.
Für Traorés diesjährigen Trip nach Moskau hatte Wladimir Putin sogar seine Präsidentenmaschine, eine vierstrahlige Iljuschin Il-96, plus eskortierende Suchoi SU-35-Kampfjets zur Verfügung gestellt. Traoré ist eine hochgradig gefährdete Person. Auf ihn wurden mehrere, zum Teil sehr ernst zu nehmende Anschläge ausgeübt. Seine Bemühungen, Burkina Faso aus der neokolonialen Abhängigkeit von Frankreich zu befreien und die Ausplünderung seiner Naturressourcen durch die international operierenden Konzerne zu beenden, haben ihn ins Fadenkreuz der Kreuzritter für »Freedom & Democracy« geraten lassen.
Ein Umstand, der schon vielen afrikanischen Unabhängigkeitskämpfern zum Verhängnis geworden ist. Wie zum Beispiel Thomas Sankara, Traorés charismatischem Vorgänger. Sankara, der 1984 neben vielem anderen auch die Namensänderung des völlig verarmten Obervolta in Burkina Faso – »Land der integren Menschen« – anregte, war stark von den Werken Marx‘ und Lenins beeinflußt und dem Panafrikanismus verpflichtet. 1983 durch einen Militärcoup an die Macht gekommen, setzte er Verstaatlichungen, Landreformen, ein Emanzipationsprogramm, den Bau von Schulen, Gesundheitszentren, Eisenbahn- und Infrastrukturprojekten und Wasserreservoirs durch. Gegen die Ausbreitung der Sahara gab es ein Aufforstungsprogramm mit über zehn Millionen Bäumen. Burkina Faso sollte sich selbst ernähren können. Nach Lage der Dinge können solch revolutionäre Dinge in Afrika in der Regel nur dann durchgesetzt werden, wenn sich die Revolutionäre gleichermaßen auf die Unterstützung der Bevölkerung und die Macht der Waffen stützen können. In Ibrahim Traoré dürfte Thomas Sankara einen würdigen Erben gefunden haben.
Allerdings fiel Sankaras Amtszeit in die historische Phase der aggressiven Konterrevolution von USA-Präsident Ronald Reagan, in der auch Paris versuchte, die Macht in seinem ehemaligen afrikanischen Kolonialreich zu restaurieren. Mit Blaise Compaoré, einem ehemaligen Weggefährten Sankaras, fanden die rassistischen Kolonialherren auch das willige Werkzeug. Am 15. Oktober 1987 fiel Thomas Sankara einem von Compaoré inszenierten Attentat zum Opfer. Der von den USA geführte Westen ist heute zwar signifikant schwächer und die antihegemonialen Kräfte in unvergleichlichem Maße stärker als 1987, aber zu Putschen, Regime-Change-Operationen und Terrorakten immer noch fähig.
2007, mitten im »Global War On Terror«, wurde das »Afrikakommando« der USA, eine von insgesamt elf Stabskampfgruppen, gegründet, mit denen das Pentagon den gesamten Globus einschließlich des Welt- und des Cyberraums zu beherrschen versucht. AFRICOM steht auch für den Anspruch Washingtons, Afrika nicht den schwächelnden europäischen Kolonialisten zu überlassen, sondern das Ruder auf dem Kontinent selbst zu übernehmen. Es kann als akute Bedrohung jeder afrikanischen Regierung oder Bewegung wahrgenommen werden, die nicht bereit ist, sich den Imperativen Washingtons zu beugen.
Rußland, China und Nordkorea zeigen sich entschlossen, Ibrahim Traoré und damit dem antikolonialen Aufbruch der Region das Schicksal Sankaras ersparen zu wollen. Auch das willige Werkzeug Washingtons, der islamistische Terror, der beim Sturz und der brutalen Ermordung von Muammar al-Gaddafi in Libyen zum Einsatz gekommen ist, hat sein Operationsgebiet bis in die Sahelzone erweitert. Die Ermordung Gaddafis war ein schwerer Rückschlag für den Antikolonialismus und Panafrikanismus. Vor allem Burkina Faso, Mali und das direkt an Libyen grenzende Niger sind ins Fadenkreuz der Terroristen geraten. Dazu kam die Interventionsdrohung durch das von Paris beeinflußte westafrikanische Staatenbündnis ECOWAS.
Vor diesem Hintergrund haben sich die bedrohten Sahelstaaten am 6. Juli 2024 entschlossen, sich zur Allianz der Sahelstaaten (AES) zusammenzuschließen. Dabei geht es nicht nur darum, die Sicherheitslage zu verbessern, sondern auch darum, die französischen Truppen aus dem Land zu weisen und die neokoloniale Ausbeutung Frankreichs zu beenden. Seit 2017 ist Rußland zunächst mit der halbstaatlichen PMC-Wagner-Gruppe, seit vergangenem Jahr offiziell mit dem neugebildeten Africa Corps in mehreren Staaten Afrikas militärisch vertreten. Diplomatisch hat das Außenministerium in Moskau Anfang April 2025 die erste Runde der AES-Rußland-Konsultationen organisiert, bei denen es laut der Nachrichtenagentur TASS um die Ökonomie, um Kernenergie, Hochschulbildung, Transport, Handel und Telekommunikation ging.
Das wiedererwachte Burkina Faso steht daher nicht allein. In den Jahren 2020 und 2021, vor dem Hintergrund einer ernsten sozialökonomischen Krise im Sahel, hatten Offiziere der malischen Armee in zwei Staatsstreichen die unfähige alte Regierung hinweggefegt und ein Nationalkomitee zur Rettung der Menschen Malis errichtet. Der damalige Oberst und heutige Armeegeneral Assimi Goïta führt den Sahelstaat Mali seit dem 24. Mai 2021 und wurde am 6. Juli vergangenen Jahres zum Präsidenten der AES ernannt. Am 23. September 2022 unternahmen burkinische Offiziere unter dem Kommando von Traoré ebenfalls einen erfolgreichen Staatsstreich, und schließlich beförderte am 26. Juli 2023 ein Militärputsch in Niger General Abdourahamane Tchiani ins Präsidentenamt.
Die Volksrepublik China – mit ihrer Belt-and-Road-Initiative ohnehin stark auf dem afrikanischen Kontinent engagiert – hat die Sahelzone seit langem zu einem besonderen Schwerpunkt ihrer ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklungsarbeit gemacht. Mit der Gründung der AES und deren Austritt aus ECOWAS hat diese Kooperation eine starke geostrategische und geoökonomische Komponente erhalten.
Die AES sind reich an natürlichen Ressourcen: Mali und Burkina Faso gehören zu Afrikas größten Goldproduzenten. Niger zählt zu den weltgrößten Uranexporteuren. Uran, das allerdings seit den 60er Jahren durch den französischen Konzern Orano gefördert wird. Oranos Profite flossen selbstredend nach Paris. Alle drei Staaten verfügen über große Lithiumvorkommen, die künftig durch China gefördert werden. Der Kampf um Währungssouveränität gegen den CFA-Franc, die Hoheit über die eigenen Ressourcen und die daraus erzielbaren Renditen wird entscheidend für die Zukunft der AES sein.
Der antikoloniale Aufbruch der drei Sahelstaaten dürfte im Globalen Süden mit großer Aufmerksamkeit beobachtet werden. Wenn es diesen relativ kleinen und armen Staaten mit Hilfe der beiden BRICS-Schwergewichte Rußland und China gelingt, das neokoloniale Joch Frankreichs abzuschütteln, sagt das viel über die Chancen, diesen oder einen ähnlichen Weg selbst beschreiten zu können.