Selektive Wahrnehmung
Ein Vergleich der Berichterstattung – und des Handelns von Regierung und Parlament – hinsichtlich der Rückeroberung Ost-Aleppos und der am Sonntag begonnenen Offensive auf den Westteil Mossuls offenbart die Doppelmoral in der Begründung westlicher Politik.
Obwohl die rund 8.000 Kämpfer islamistischer, teils Al-Qaida-naher Milizen, die sich bis Dezember 2016 im Osten Aleppos verschanzt hatten, den Westteil der Stadt täglich mit Raketen und Granaten beschossen, wurden ausschließlich die syrischen und russischen Streitkräfte von westlichen Politikern und Medien wegen ihrer Luftangriffe auf deren Stellungen angeprangert und – gestützt auf nicht überprüfbare Meldungen – aller möglichen »Kriegsverbrechen« bezichtigt. Hingegen wurde der Beginn der Offensive gegen West-Mossul, wo sich 5.000 bis 7.000 Kämpfer des sogenannten »Islamischen Staates« (IS) unter bis zu einer Million Zivilisten aufhalten, begrüßt.
Doch auch der Vorstoß der Anti-IS-Allianz erfolgt unter dem Einsatz schwerer Waffen und wird von massiven Luftangriffen der von den USA angeführten Koalition unterstützt. Schon in den zwei Wochen vor der Offensive flog die USA-Luftwaffe mehr als 50 Angriffe auf die Metropole am Tigris. Bei Luftschlägen auf Wohngebiete wurden nach Angaben des Generalstabs innerhalb von drei Tagen mehr als 60 Zivilisten getötet und über 200 verwundet.
Trotzdem hat sich Außenminister Asselborn bis heute genauso wenig mit dem vermeintlichen »Bürgermeister« von West-Mossul getroffen, wie sich die Chamber bis heute nicht zu einer Resolution durchringen konnte, in der auch für die irakische Stadt eine dauerhafte Feuereinstellung gefordert wird.
Aus Mossul finden auch keine Bilder der bei den Angriffen zerstörten Häuser und getöteten Zivilisten den Weg in die westlichen Großmedien – so wenig wie zuvor aus den größtenteils zerstörten irakischen Städten Ramadi und Falludscha. Während den Dschihadisten in Mossul vorgeworfen wird, die Zivilbevölkerung den Bomben auszusetzen und sie als »menschliche Schutzschilde« zu mißbrauchen, war davon im Osten Aleppos keine Rede. Jedoch hatten laut UNO auch die Gotteskrieger, die sich dort verschanzt hatten, die verbliebenen Bewohner gewaltsam am Verlassen der von ihnen kontrollierten Stadtteile gehindert.
Es ist sogar fraglich, ob die Sunniten in Mossul die Regierungskräfte bei einem erfolgreichen Verlauf ihrer Offensive als Befreier feiern werden, so wie das die Sunniten in Aleppo getan haben. Beim Osten Aleppos handelte es sich nämlich keineswegs um befreites Gebiet. In der Metropole im Norden Syriens hatte es 2011 keine nennenswerten Proteste gegen die Regierung gegeben, und die zweitgrößte Stadt des Landes, die als Hochburg von Präsident Assad galt, blieb über ein Jahr lang auch von Unruhen verschont. Zum Verhängnis wurde Aleppo schließlich die Nähe zur Türkei. Einzelne Stadtteile wurden von islamistischen Milizen, die über die nahe türkische Grenze gut versorgt wurden, regelrecht erobert. Das Gros der Bewohner flüchtete, die meisten in die von der Armee gehaltenen Viertel.
Davon kann in Mossul nicht die Rede sein. Der IS konnte die Millionenstadt nur einnehmen, weil hier und in anderen sunnitischen Gebieten des Irak bereits ein regelrechter Aufstand gegen die schiitisch dominierte, sektiererische Regierung in Bagdad im Gange war. Die Vertreibung der Regierungstruppen wurde von der Mehrheit der Bevölkerung, die diese Einheiten als Besatzer wahrgenommen hatte, durchaus begrüßt. Die meisten hatten nichts für die Dschihadisten übrig, letztlich wurden sie aber als kleineres Übel angesehen. Daran hat sich, auch wenn die brutale Herrschaft der Terrorbande die Abneigung sicherlich erheblich steigerte, bis heute nichts grundsätzlich geändert.
Oliver Wagner