Ausland30. März 2020

Zu wenig Technik für Kampf um jeden Corona-Patienten

Mediziner in Frankreichs Epizentrum Grand-Est überfordert

Frankreichs Epizentrum der Coronavirusepidemie, vergleichbar den chinesischen und italienischen Provinzen Hubei und Lombardei, ist die nordöstliche Region Grand-Est. Man kennt heute sogar den Ausgangspunkt. Ende Februar fand in der nordelsässischen Stadt Mulhouse ein mehrtägiges Treffen einer Evangeli­sten-Kirche mit 2.000 Teilnehmern aus ganz Frankreich und aus Nachbarländern statt. Keiner soll Krankheitssymptome gehabt haben, doch müssen unter ihnen bereits andernorts infizierte Menschen gewesen sein. Sie steckten unwissentlich andere Teilnehmer an und die nahmen das Virus an ihre Heimatorte mit, wo sich so neue Krankheitsherde bildeten.

Seit Wochen ist das Elsaß und vor allem dessen Süden mit der Kapitale Mulhouse der Teil Frankreichs mit den mei­sten Opfern. Bis zum Wochenende sind landesweit 2.606 Menschen gestorben, davon etwa ein Drittel in der Region Grand-Est und davon wieder die Hälfte im südlichen Elsaß. Dort sind die Krankenhäuser mit ihren Ärzten, Schwestern und anderen Mitarbeitern regelrecht überschwemmt.

»Das ist schon keine Welle mehr, sondern ein Wirbelsturm, der alles mit sich reißt«, meint der Rettungsarzt François Cerfon vom Krankenhaus Colmar. Dort sind die 30 Betten der Intensivstation längst belegt und täglich kommen 10-20 dringende Fälle hinzu, die künstlich beatmet werden müßten. »Wir sind den ganzen Tag über beschäftigt, Plätze in anderen Krankenhäusern zu suchen«, erklärt Doktor Cerfon.

Damit geraten die Ärzte immer mehr in die verzweifelte Lage, wie ihre Kollegen im Epizentrum Norditalien aufgrund des Gesundheitszustands, der eventuellen Langzeiterkrankungen und vor allem des Alters entscheiden zu müssen, wer notbehandelt wird und wer nicht. Wessen Überlebensaussichten vergleichsweise gering sind, dem kann man nur noch mit Schmerz- und Schlafmitteln das Sterben leichter machen. Vor dieser Entscheidung stünden die Ärzte auch sonst ständig, aber in der gegenwärtigen Situation und mit der Verknappung der technischen Mittel spitze sich das natürlich zu, meint Doktor Cerfon. »Wir haben die Kriterien, nach denen wir entscheiden, nicht geändert, und das Alter ist dabei nur ein Faktor. Aber das kann sich mit der Zeit und der weiteren Verschärfung der Lage ändern.«
Genauso dramatisch wie in Colmar ist die Situation an den Universitätskliniken von Mulhouse und Strasbourg, den beiden größten Krankenhäusern des Elsaß. In Mulhouse hat die Armee auf dem Parkplatz der Uni-Klinik ein Feldlazarett mit Zelten und 30 Plätzen für Intensivbehandlung aufgebaut. In Strasbourg wurde die Notstation, die gewöhnlich 100 Betten mit Einrichtungen für künstliche Beatmung hat, durch 150 Betten auf benachbarten Stationen erweitert. Doch die Möglichkeit, darüber hinaus zu gehen, ist begrenzt, weil es an der nötigen Technik fehlt und nachbestellte Beatmungsgeräte erst in drei bis vier Wochen geliefert werden können.

Um die weiter überquellenden Krankenhäuser des Elsaß zu entlasten, gab es in den zurückliegenden Tagen bereits Patienten-Transporte mit einem Flugzeug der Luftstreitkräfte ins südostfranzösische Toulon und mit einem TGV-Hochgeschwindigkeitszug nach Westfrankreich, wo die Krankenhäuser bislang noch freie Kapazitäten auf ihren Rettungsstationen haben. Doch das brachte im Elsaß nur eine Entlastung um einige Dutzend Kranke, während viel mehr täglich neu hinzu kommen.

Anhand der Statistik und der Karte kann man Tag für Tag verfolgen, wie sich die Front der Krankheit von Ost nach West verschiebt. In den nächsten Tagen wird die Pariser Region erreicht sein, wo heute schon in Seine-Saint-Denis, einem der drei Vorstadt-Departements um Paris, kein Platz auf den Rettungsstationen mehr frei ist. Laut der offiziellen Statistik von Montagfrüh zählte man landesweit 40.174 nachweisliche Corona-Kranke. Davon mußten 19.354 ins Krankenhaus und dort wiederum 4.632 auf die Intensivstation. Die offizielle Zahl der Corona-Toten erfaßt nur die im Krankenhaus. Wer zu Hause stirbt, bleibt unberücksichtigt. Das gilt auch für die Opfer in den Altenpflegeheimen. Deren Corona-Kranke werden heute nur zu oft gar nicht mehr von einem Krankenhaus aufgenommen.

Ralf Klingsieck, Paris

Abtransport von Kranken aus dem Feldlazarett der Armee in andere Regionen Frankreichs, Mulhouse, 29. März
(Foto: SEBASTIEN BOZON/AFP)