Ab in die Wüste
»Team Europe« und die Menschenrechte
Der Flüchtlingsabwehrdeal, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr niederländischer Amtskollege Mark Rutte (»Team Europe«) am 16. Juli in Tunis unterzeichneten, ist unmittelbar auf massive Kritik von Menschenrechtsorganisationen gestoßen. Faktisch billige die EU damit die Schritte, die die tunesischen Behörden in den vergangenen Monaten gegen Flüchtlinge aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara eingeleitet hätten, konstatierten nur wenige Tage danach das Forum Tunisien pour les Droits Économiques et Sociaux (FTDES), die Avocats Sans Frontières (ASF), Action Aid, EuroMed Rights und weitere Organisationen.
Die tunesischen Behörden hatten nach einer zutiefst rassistisch mitivierten Rede von Präsident Kaïs Saïed begonnen, mit Razzien, Festnahmen und Abschiebungen gegen Personen aus Subsahara-Afrika vorzugehen, wobei sie brutale Gewalt anwandten und nicht nur Personen ohne regulären Aufenthaltsstatus, sondern auch offiziell anerkannte Flüchtlinge und Studierende attackierten. Dies geschah vor dem Hintergrund rassistisch motivierter, zum Teil pogromartig eskalierender Gewalt aus der tunesischen Bevölkerung; Beobachter sprachen von einer »Jagd auf Flüchtlinge«.
Im Niemandsland verdurstet
Mittlerweile beginnt das mörderische Ausmaß der tunesischen Maßnahmen deutlich zu werden, deren Billigung sich die EU vorwerfen lassen muß. Kurz vor dem Eintreffen von »Team Europe« zur Unterschrift unter den Flüchtlingsabwehrdeal am 16. Juli war bekannt geworden, daß die tunesischen Behörden zahlreiche Menschen aus den Ländern Afrikas südlich der Sahara in ein Wüstengebiet an der Grenze zwischen Tunesien und Libyen deportiert und dort schutzlos ausgesetzt hatten – in sengender Hitze von bis zu 50 Grad Celsius, ohne Wasser und Lebensmittel; Mobiltelefone wurden den Opfern abgenommen.
Insgesamt waren laut Berichten rund 1.200 Menschen betroffen. Weitere 500 sollen in die Wüste an der tunesisch-algerischen Grenze deportiert worden sein. Mittlerweile ist bekannt, daß an der Grenze zu Libyen ausgesetzte Flüchtlinge, unter ihnen Kleinkinder, verdursteten, während »Team Europe« am 16. Juli in Tunis einen Deal über effizientere Maßnahmen gegen Flüchtlinge schloß. Laut Angaben von Menschenrechtlern sitzen rund 200 Menschen in der Wüste fest. Der Libysche Rote Halbmond sucht sie notdürftig zu versorgen. Zivilisten haben keinerlei Zugang zu dem Gebiet.
Schutzlos ausgesetzt
Daß Flüchtlinge von den nordafrikanischen Küstenstaaten in die Wüste deportiert werden, ist nicht neu und auch der Führung der EU seit langem bekannt. Bereits vor knapp zwei Jahrzehnten wurde berichtet, Marokko habe rund 500 Flüchtlinge ohne Nahrung an der Grenze zu Algerien ausgesetzt und sogar mehr als tausend Flüchtlinge in Handfesseln an die Grenze der besetzten Westsahara zu Mauretanien verschleppt.
Derlei geschieht immer wieder. So zwangen zwischen Juli und Anfang September 2018 die marokkanischen Behörden rund 5.000 Flüchtlinge in Busse, fuhren sie in abgelegene Wüstengebiete an den Landesgrenzen zu Algerien oder Mauretanien und setzten sie dort aus. Algerien hat seit Jahresbeginn, soweit bekannt, wohl rund 20.000 Flüchtlinge an die Wüstengrenze zum Niger deportiert und sie in relativer Nähe zu dem nigrischen Grenzort Assamakka ihrem Schicksal überlassen.
Bereits im März berichtete die Organisation Médecins Sans Frontières (MSF), alleine vom 11. Januar bis zum 3. März hätten 4.677 Flüchtlinge den Fußmarsch von der Grenze nach Assamakka geschafft; dort hätten freilich weniger als 15 Prozent von ihnen eine Unterkunft gefunden, die übrigen müßten im Freien dahinvegetieren. Ähnliche Fälle sind auch aus Libyen bekannt.
Auf Druck der EU
Hindert all dies die EU und ihre Mitgliedstaaten nicht, mit den Staaten Nordafrikas in puncto Flüchtlingsabwehr eng zu kooperieren, so tragen Maßnahmen, die die EU seit Jahren im Niger unter dem demokratische gewählten Präsidenten durchgesetzt hat, zum Flüchtlingssterben in der Wüste bei.
Dabei ging ebenfalls es um den Versuch, die Fluchtwege durch die Sahara in Richtung Norden abzuschotten. Einer der geographischen Schwerpunkte war die nordnigrische Stadt Agadez, ein zentraler Transitort auf dem Weg nach Libyen oder Algerien. Architekt der Maßnahmen, die von der nigrischen Regierung in Niamey auf massiven Druck der EU traf, um Agadez als Transitort auszuschalten, war der damalige nigrische Innenminister Mohamed Bazoum, späterer Präsident des Landes, den die EU nach dem Umsturz durch das Militär am 26. Juli 2023 schmerzlich vermißt.
Bazoum setzte mit aller Härte ein – auf Druck der EU verabschiedetes – Gesetz durch, das die Busreise aus Niamey nach Agadez im Namen der »Abwehr illegaler Migration« sehr erschwerte; dabei wurden auch Einwohner Senegals, Malis, der Côte d’Ivoire oder Nigerias massiven Schikanen ausgesetzt oder sogar ganz an der Fahrt nach Agadez gehindert, obwohl ihnen als Bürgern eines ECOWAS-Staats Reisefreiheit auf dem Territorium sämtlicher ECOWAS-Mitglieder zustand. Mit Maßnahmen wie diesen gelang es in der Tat, die Zahl der Personen, die nach Agadez reisten, innerhalb kurzer Zeit drastisch zu reduzieren.
Absehbare Opfer
Die von der EU erzwungenen und vom damaligen nigrischen Innenminister Bazoum loyal umgesetzten Maßnahmen haben die vom Reiseverkehr abhängige Wirtschaft in Agadez schwer geschädigt. Ersatzprogramme, die die EU versprochen hatte, erfüllten die Erwartungen nicht.
Die Fluchtwege in Richtung Norden wurden allerdings nicht ausgetrocknet, sondern – dies hatten Kritiker vorausgesagt – lediglich weiter in die Illegalität verschoben. Das hatte zur Folge, daß die Flüchtlinge – auch dies war vorab prognostiziert worden – auf gefährlichere Routen in abgelegeneren Wüstengebieten ausweichen mußten, um nicht von Präsident Bazoums Repressionskräften aufgegriffen zu werden.
Dort ist das Risiko, im Wüstensand steckenzubleiben oder auf völlig ungesicherten Wegen von der Lkw- oder Pickup-Ladefläche zu fallen, erheblich größer, zugleich aber die Chance, von anderen Reisegruppen entdeckt und gerettet zu werden, erheblich geringer. Entsprechend stieg die Zahl der Personen, die auf dem Weg durch die Sahara ums Leben kamen, massiv an. Laut Angaben der International Organization for Migration (IOM) sind seit 2014 mindestens 5.600 Menschen auf dem Weg durch die Sahara gestorben oder verschwunden. Mit einer deutlich größeren Dunkelziffer muß gerechnet werden.