Ausland07. September 2021

Völkerrecht außer Kraft gesetzt

Kriegsvorbereitung durch »Neue Atlantik-Charta«. Dokument von 1941 und UNO-Charta werden negiert

von Arnold Schölzel

Als der faschistische deutsche Staat am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg begann, war das unter anderem möglich, weil die Westmächte alle Bemühungen der Sowjetunion, mit ihnen gemeinsam ein kollektives Sicherheitssystem gegen Nazideutschland zu schaffen, vereitelt hatten.

Die sowjetische Außenpolitik repräsentierte Maxim Litwinow, der von 1930 bis zum Mai 1939 Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten war. Er hatte schon in den 20er Jahren versucht, Nichtangriffsverträge mit Nachbarstaaten der UdSSR zu schließen – ohne großen Erfolg. 1932 und 1933 kam es zwar zu Abkommen mit Finnland, Lettland, Estland, Polen, Frankreich und Italien, aber die Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland durchkreuzte weitgehend seine Strategie. Litwinow erreichte zwar noch Ende 1933 die diplomatische Anerkennung der Sowjetunion durch die USA unter Präsident Franklin D. Roosevelt, letztlich aber kam eine gemeinsame Front gegen Nazideutschland nicht zustande.

Vor allem Frankreich und Großbritannien setzten mehr und mehr auf Duldung Hitlers und auf dessen Ermunterung. Sie unternahmen nichts gegen seine Hochrüstung und unterstützten das Eingreifen der Faschisten in den Spanischen Krieg. Im Münchner Abkommen demonstrierten sie schließlich, worauf es ihnen ankam: Hitler hatte freie Bahn für einen Krieg gegen die UdSSR.

Die Führung der Sowjetunion hatte in dieser Hinsicht keine Illusionen. Sie verhandelte zwar weiter mit Großbritannien und Frankreich über ein Bündnis gegen Hitler, beide Staaten torpedierten es aber. Der Sowjetunion schien ein Zweifrontenkrieg zu drohen: Japan testete in zum Teil großen Grenzschlachten ihre Verteidigungsfähigkeit. Der Nichtangriffsvertrag, den Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop am 23. August 1939 in Moskau unterzeichneten, verschaffte eine Atempause.

Kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion trafen sich Roosevelt und der britische Premier Winston Churchill und vereinbarten die »Atlantik-Charta«, die am 14. August 1941 veröffentlicht wurde. Punkt acht sah die »Schaffung eines umfassenden und dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit« vor. Am 24. September vor 80 Jahren stimmten Vertreter von neun faschistisch besetzten Ländern sowie die Sowjetunion dem Dokument zu. Auf dieser Grundlage entstand 1944 die UNO, die Organisation der Vereinten Nationen.

In deren Charta wird als Ziel genannt, »künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren« und »zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu ergreifen, um Bedrohungen des Friedens vorzubeugen und zu beseitigen«. Der Politikwissenschaftler Anton Latzo schrieb dazu 2020: »Das bedeutet, das neue Völkerrecht, dessen allgemeindemokratischer Charakter die UNO-Charta charakterisiert, wirkt antiimperialistisch, da es die dem Imperialismus innewohnende Kriegstreiberei eindämmt.«

Das bedeutete aber auch: Die UNO-Charta stand der Politik des Westens im Kalten Krieg entgegen. Die atomare Drohung der USA gegen die Sowjetunion seit 1949, die Gründung der NATO als »Verteidigungsbündnis« sowie die Spaltung Deutschlands zum Zweck der Remilitarisierung Westdeutschlands belegen das. Durch die Nachkriegsgeschichte ziehen sich Proteste der Friedensbewegung dagegen und zahlreiche Vorschläge der Sowjetunion und der sozialistischen Länder, um dem durch europäische Sicherheitssysteme Einhalt zu gebieten – bis hin zur »Charta von Paris« 1990, die heute vergessen ist.

Die USA betrachteten das darin deklarierte »gemeinsame Haus Europa« als überflüssig, wenn nicht gefährlich, und erklärten sich zur »einzigen Weltmacht«. Sie starteten noch 1991 jene Kette von »Ordnungskriegen«, die mit dem Abzug aus Afghanistan nicht zu Ende sind. In den Vordergrund tritt seit Jahren die Kriegsvorbereitung gegen Rußland und die Volksrepublik China.

Es ist abstrus, daß USA-Präsident Joseph Biden und der britische Premierminister Boris Johnson dies am Rande des G7-Gipfels am 10. Juni in Form einer »Neuen Atlantik-Charta« verkündeten. Das Papier enthält nichts weniger als die Negation jedes Systems kollektiver Sicherheit, das seinem Begriff nach auf Völkerrecht basieren muß. Hier wird allein »unsere kollektive Sicherheit« erwähnt zusammen mit einem Bekenntnis zur atomaren Abschreckung, also zum Erstschlag durch die NATO. An die Stelle des Völkerrechts werden »Werte« und eine »regelbasierte internationale Ordnung« gesetzt. Die UNO-Charta kommt nicht vor – es handelt sich um manifesten imperialistischen Völkerrechtsnihilismus. Die Gespräche über »strategische Stabilität« zwischen Rußland und den USA ändern daran nichts, eher belegt deren Stattfinden, wie gefährlich die Lage ist.

In der Bundesrepublik Deutschland, deren Grundgesetz die Einordnung in ein »System gegenseitiger kollektiver Sicherheit« ermöglicht (Artikel 24, Absatz 2), ist die NATO durch ein willfähriges Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 zu einem solchen System umdefiniert worden. Das diente vor 27 Jahren dazu, die deutsche Beteiligung an NATO-Kriegen außerhalb des Paktgebietes juristisch zu rechtfertigen. Der Begriff »kollektive Sicherheit« war entwertet.

Die »Neue Atlantik-Charta« ist ein Signal, daß weitere Bremsen gelockert werden sollen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber Parallelen zu den 30er Jahren sind da – bei größeren Gefahren. Eine »Anti-Hitler-Koalition« im übertragenen Sinn ist nötiger als damals.