Ausland18. Dezember 2021

»Brutaler Niedergang« einer Volkswirtschaft

Der Libanon 2021 – Eine Bilanz

von Karin Leukefeld

Wenig hat sich im Libanon verändert. Die Wirtschaftskrise hält an und der Hafen von Beirut, der als wichtiger Handelsplatz im östlichen Mittelmeerraum dem Land immer Luft zum Atmen verschafft hatte, wartet noch auf den Wiederaufbau. Die juristische Aufklärung der Hafenexplosion am 4. August 2020 kommt ebenso wenig voran, wie die juristische Untersuchung des bankrotten Bankensystems. Das Corona-Virus und die damit verbundenen Einschränkungen behindern alle Bereiche des Alltags, worunter besonders junge Leute in Schulen und Universitäten, die immer wieder geschlossen werden, zu leiden haben.

Öl, Benzin und Strom sind knapp und teuer. Die Regale in den Supermärkten weisen große Lücken auf. Der Libanon ist auf Importe angewiesen, kann aber mangels Devisen nicht genug auf dem Weltmarkt einkaufen. Staatliche Subventionen auf Benzin, Medikamente und Weizen wurden eingestellt. Nur für diejenigen, die unter der Armutsgrenze leben, werden Ausnahmen gemacht.

 

Eine neue Regierung

Im Juli wurde Najib Mikati zum neuen Premierminister ernannt, im September – nach langer Diskussion im Parlament – seine Regierung bestätigt. Die Abgeordneten der Zukunftspartei von Saad Hariri enthielten sich demonstrativ bei der Abstimmung. Hariri hatte sich bei einer Vorauswahl für den Posten nicht durchsetzen können, er war im Herbst 2019 als Regierungschef zurückgetreten.

Im August lieferte Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hisbollah, ein Meisterstück, als er trotz der von den USA gegen den Libanon und den Iran verhängten Sanktionen Öl aus dem Iran bestellte. Vier Frachtschiffe lieferten das Öl in den kleinen syrischen Hafen Tartus, wo es in Tanklastwagen umgeladen wurde. Eskortiert von der syrischen Armee fuhren die Lastwagen dann in den Libanon weiter, wo die Hisbollah das Öl an Krankenhäuser, Schulen und Universitäten verteilte und zu einem geringen Preis an bedürftige Familien ausgab.

Die USA-Botschafterin Dorothy Shea eilte daraufhin in den Präsidentenpalast und sagte Präsident Michel Aoun zu, daß Ägypten Gas durch die Arabische Gas Pipeline über Jordanien und Syrien in den Libanon leiten dürfe, um den Strommangel im Land zu beheben. Finanziert werden solle das von der Weltbank, so Shea. Die USA würden einen entsprechenden Antrag unterstützen.

Wenig verwunderlich war, daß die neue Regierung rasch an ihre Grenzen stieß. Entgegen vorheriger indirekter finanzieller Zusagen kehrte Premierminister Mikati mit leeren Händen von seinem Antrittsbesuch in Paris zurück. Saudi Arabien, einer der Paten der politischen Elite im Libanon, kündigte die Zusammenarbeit mit Libanon auf und zog seinen Botschafter ab, andere arabische Golfstaaten – bis auf Katar – folgten. Grund für den saudischen Rückzug war eine Bemerkung des neuen Informationsministers George Kordahi – ein langjährige, über alle Grenzen hinweg beliebter Fernsehmoderator – in einem TV-Beitrag. In einer Sendung mit Schülern hatte er den Krieg gegen Jemen kritisiert. In der saudischen Hauptstadt Riad wurde das als Kritik an der saudisch geführten arabische Allianz gegen die Aufständischen im Jemen verstanden und die Führung des autoritären saudischen Regimes fühlte sich durch die Äußerungen des libanesischen Ministers beleidigt. Saudi Arabien führt und finanziert das arabische Kriegsbündnis im Jemen. Kordahi trat schließlich Anfang September zurück.

 

Weihnachten bleiben die Lichter aus

»Santa Closed« – Der Weihnachtsmann hat geschlossen, die Krise erstickt die Weihnachtsstimmung. So überschreibt die französische Nachrichtenagentur AFP einen Bericht über das vorweihnachtliche Beirut im Dezember 2021.

Die Straßen sind leer, Geschäfte geschlossen, mangels Strom liegen weite Teile der libanesischen Hauptstadt ebenso im Dunklen wie die sonst üppig erleuchtete Weihnachtsdekoration. Anstelle von Schmuck und ausgefallenen Geschenken stehe Sicherheitstechnik derzeit hoch im Kurs, heißt es in dem Agenturbericht.

»Der Verkauf von Geldschränken und Tresoren« habe seit Beginn der Wirtschaftskrise Ende 2019 um bis zu 50 Prozent zugenommen, gibt ein Vertreter der libanesischen Sicherheitsfirma Smartsecurity LB der AFP zu Protokoll. Überwachungskameras und Alarmsysteme gingen weg »wie warme Semmel«. Schätzungen zufolge sollen wohlhabende Libanesen, aber auch viele, die auf jeden Cent angewiesen sind, in ihren Wohnungen bis zu 10 Milliarden US-Dollar Bargeld verstaut haben, weil sie den Banken nicht mehr trauen.

Die Sicherheitsfirma Smartsecurity LB wirbt mit dem Slogan »Ihr Schutz ist unser Beruf« für Rundum-Pakete zum Schutz von Türen und Häusern, Autos und Wohnungen, Telefon- und Internetanschlüssen. Der Einbau ist im Preis inbegriffen. Die Kundenliste des 2011 gegründeten Unternehmens reicht von staatlichen Einrichtungen wie der Libanesischen Zentralbank über Schulen und Universitäten, UNO-Büros und ausländischen Hilfs- und Entwicklungsorganisationen bis hin zu Supermarktketten und den Ölgesellschaften CORAL und Othman Petroleum.

Wie in allen Kriegs- und Krisenregionen der Welt gehören Sicherheitsfirmen auch im Zedernstaat zu den Gewinnern der anhaltenden Wirtschaftskrise. Dabei gelten die Angebote von Smartsecurity LB vorwiegend für die ausländischen Akteure und Institutionen im Libanon, die über entsprechende Budgets verfügen. Eine schmale Oberschicht im Land, deren Vermögen auch während der schlimmsten Wirtschaftskrise nur unwesentlich geschrumpft ist oder sich sogar noch vermehrt hat, kann sich ebenfalls die Sicherheitsdienste leisten.

 

»Unsicherheiten treiben Auswanderung an«

Das Zitat stammt aus einem Bericht, den die Weltbank Anfang Juni 2021 veröffentlichte. Darin beklagt die Weltbank auch, daß »absichtlich nichts getan wird«, um die Krise und den rapiden Verfall des Libanesischen Pfunds zu stoppen. Die politische Reaktion der libanesischen Führung sei angesichts dieser Herausforderungen »höchst unzureichend«. Das liege weniger an mangelnden Kenntnissen und es gebe auch gute Beratung, so die Weltbank weiter. Vielmehr mangele es an einem politischen Konsens über effektive politische Initiativen, um die Krise zu lösen.

Gleichzeitig gebe es politischen Konsens darüber, »das bankrotte Wirtschaftssystem zu verteidigen, von dem wenige so lange profitiert« hätten. Die katastrophalen sozio-ökonomischen Bedingungen könnten zu sozialen Unruhen im Libanon mit regionalen und internationalen Auswirkungen führen. Das pro Kopf Einkommen der Bevölkerung – in US-Dollar berechnet – sei um 40 Prozent eingebrochen. Ein »derartig brutaler Niedergang« einer Volkswirtschaft sei normalerweise mit Krieg verbunden.

Vier von fünf Libanesen leben nach Angaben der UNO heute unter der Armutsgrenze von 2 US-Dollar/Tag. Die Zahl der Auswanderer steigt stetig an. 2020 wurde diese Zahl mit 17.720 angegeben, schrieb das Internetportal »Al Monitor« Anfang Dezember 2021. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 stieg die Zahl derjenigen, die ihr Glück oder zumindest eine bessere Zukunft lieber im Ausland suchen wollen, um weitere 65.000 an und könnte sich nach Meinung von Experten im Jahr 2022 verdoppeln. Die Zahl der Anträge auf Verlängerung oder Ausstellung eines Passes stieg auf 150 Prozent.

Der Libanon ist ein Spielball regionaler und internationaler Interessen geblieben. Die Lage des Landes und seiner Häfen als Tor zwischen Ost und West sowie die Gasvorkommen vor der östlichen Mittelmeerküste haben das Gebiet der Levante zu einem der wichtigsten strategischen Streitpunkte des Kampfes um Ressourcen und um politischen und wirtschaftlichen Einfluß.

Der Libanon ist auch das Tor zum Wiederaufbau Syriens, was für beide Länder und die ganze Region wirtschaftlichen Aufschwung mit sich bringen könnte. Doch solange dieser Prozeß von den USA, der EU und Israel kontrolliert und durch Sanktionen und politische Winkelzüge bestimmt wird, tut dieses Dreigestirn alles dafür, um das zu verhindern.