Der Versuch, Pflöcke einzurammen
NATO will mit aller Macht »360-Grad-Ansatz« verwirklichen. Hochtrabende Pläne sind unausgereift, dem Militärpakt fehlen die Kräfte
Daß sie bescheiden sei, das konnte man der NATO wirklich noch nie nachsagen. Daran hat sich auch auf ihrem jüngsten Gipfel in Madrid nichts geändert. Das Bündnis werde seine »Reichweite vergrößern«, um »im Einklang mit unserem 360-Grad-Ansatz in allen Dimensionen und Richtungen abschrecken« und bei Bedarf auch »verteidigen«, also Krieg führen zu können, heißt es im neuen strategischen Konzept, das die NATO am Mittwoch vergangener Woche in der spanischen Hauptstadt verabschiedet hat.
»360-Grad-Ansatz«, das bedeutet ganz konkret, daß die NATO die Kapazitäten besitzen will, nicht nur brachial ihre sogenannte Ostflanke gegen Rußland hochzurüsten, sondern bei Bedarf zugleich auch an ihrer sogenannten Südflanke oder im Indischen bzw. im Pazifischen Ozean zu operieren. Dazu werde sie künftig, heißt es weiter im neuen Konzept, ihr »Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv deutlich verstärken«.
Unter den Aufrüstungsplänen der NATO haben in den vergangenen Tagen diejenigen zur Militarisierung der Ostflanke die größte Aufmerksamkeit erhalten. Sie sind in der Tat dramatisch. Mußten sich bisher rund 40.000 Soldaten – diejenigen aus der NATO Response Force (NRF) – in erhöhter Einsatzbereitschaft halten, so sollen es schon ab dem kommenden Jahr mehr als 300.000 sein, kündigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg an.
Zusagen ohne Basis
Im Detail allerdings ist vieles offenkundig noch unklar. So berichtete ein Journalist der Londoner »Financial Times«, er habe im Laufe des Tages über die Pläne für die erhöhte Einsatzbereitschaft Hunderttausender Soldaten und über die angeblichen Zusagen dafür mit Vertretern einer ganzen Reihe großer Mitgliedstaaten gesprochen: »Sie wissen nichts von ihren Versprechungen und haben keine Ahnung, wie um alles in der Welt« Stoltenberg denn »auf die Zahl 300.000« gekommen sei.
Der Generalsekretär redete sich heraus, die Staats- und Regierungschefs hätten das halt so beschlossen. Blickt man auf die Zusagen der Bundesrepublik Deutschland, die ja einer der wichtigsten Mitgliedstaaten ist, dann klafft doch eine beachtliche Lücke zwischen dem Ist-Stand und dem Ziel. Es dürfte noch einige Energie kosten, die Lücke zu schließen.
Neben der Militarisierung ihrer Ostflanke hat die NATO – im Sinne ihres ehrgeizigen »360-Grad-Ansatzes« – auf ihrem Gipfel auch ihre Südflanke ins Visier genommen. »Der Nahe Osten, Nordafrika und die Sahelregion« seien gegenwärtig durch »Konflikte, Fragilität und Instabilität« bedroht, heißt es im neuen strategischen Konzept. Dies schaffe nicht nur »einen fruchtbaren Boden« für Terrorismus, sondern ermögliche es auch, daß sich »strategische Wettbewerber destabilisierend (…) einmischen«. Letzteres bezieht sich darauf, daß neben der Zentralafrikanischen Republik inzwischen auch Mali Militärausbilder und private Militärfirmen aus Rußland ins Land geholt hat und daß Moskau darüber hinaus in Syrien großen, in Libyen immerhin spürbaren Einfluß erlangt hat.
Die NATO will dagegen vorgehen. Man habe »unseren Fortschritt im Kampf gegen den Terrorismus« bilanziert, sagte Stoltenberg am 30. Juni – und man werde die eigenen Aktivitäten diesbezüglich verstärken. Neben dem Trainingseinsatz im Irak wolle man nun auch Mauretanien, ein Nachbarland Malis, im Kampf gegen Terrorismus und Migration fördern. Darüber hinaus solle Tunesien zusätzliche Unterstützung bekommen.
Der Versuch, Pflöcke gegen den zuletzt erstarkenden russischen Einfluß einzurammen, soll den Rückzug des Westens stoppen, der zuletzt im fluchtartigen Abzug der NATO aus Afghanistan wie auch im Ende des EU-Ausbildungseinsatzes in Mali an Tempo gewann.
Perspektiven ungewiß
Dabei sind die Perspektiven für die NATO-Aktivitäten an der Südflanke jenseits der hehren Ankündigungen auf dem Madrider Gipfel durchaus ungewiß. Schließlich hatten die USA ihren Rückzug aus Afghanistan ja nicht ohne Grund eingeleitet: Sie benötigen all ihre Kapazitäten für den Machtkampf gegen China. Auch die deutsche Bundeswehr hat eigentlich keinen Spielraum für neue Aktivitäten im Süden, ganz im Gegenteil. Marineinspekteur Jan Christian Kaack hat erst am Montag vergangener Woche erklärt, die Seestreitkräfte seien bereit, alle Kräfte in den Aufmarsch gegen Rußland zu werfen. Das bedinge allerdings »eine Neubetrachtung der Einsätze im Mittelmeer und damit einhergehend deren Flexibilisierung beziehungsweise Beendigung«. Für eine nicht nur verbale, sondern reale Aufrüstung an allen Fronten reichen die Kräfte offenbar nicht mehr aus.
Das zeigt sich sogar dort, wo die USA eigentlich ihren absoluten Schwerpunkt setzen – bei der Stärkung ihrer militärischen Präsenz in der Asien-Pazifik-Region, die für den Machtkampf gegen China zentrale Bedeutung besitzt. USA-Präsident Biden kündigte in Madrid an, die USA hätten die Zahl ihrer Soldaten in Europa bereits auf 100.000 aufgestockt, würden nun zwei Geschwader aus F-35-Kampfjets zusätzlich in Britannien sowie zwei Zerstörer zusätzlich im spanischen Rota stationieren, würden darüber hinaus weitere Kräfte für die Luftverteidigung entsenden – über 600 Soldaten nach Deutschland, weitere nach Italien – sowie in Polen ein Hauptquartier für das V. US-Korps aufbauen.
Skeptisch äußerte sich dazu Eric Sayers, Exberater des verstorbenen Hardliners im USA-Senat John McCain, der sich zur Zeit beim neokonservativen American Enterprise Institute mit der strategischen Entwicklung in der Asien-Pazifik-Region befaßt. Stocke man die Truppen in Europa auf, während man »wenig bis nichts Neues in Asien« auf die Reihe kriege, dann verstärke man die Auffassung, »daß Asien an zweiter oder letzter Stelle kommt«, monierte Sayers mit Blick auf Bidens Ankündigung: »Japan und Australien kratzen sich den Kopf.«
Und es stimmt ja: Die gegen Rußland gerichtete Truppenaufstockung der USA in Europa kostet Kräfte, die den USA – und nicht nur ihnen – nun im Machtkampf gegen China fehlen. Die NATO und ihre Mitgliedstaaten operieren längst am oberen Ende ihrer Kapazitäten. Unterhalb der martialischen Oberfläche, die in Madrid so grell aufschien, operieren sie mit allerlei ungedeckten Schecks. Das macht die Sache allerdings ganz gewiß nicht weniger gefährlich.
Mehr Milliarden im NATO-Topf
Nicht nur Krieg, auch Kriegsvorbereitungen sind teuer. Die NATO hat deshalb auf ihrem Madrider Gipfel ihren Etat deutlich erhöht. Der war bislang vergleichsweise niedrig; aus ihm wurden vor allem das NATO-Hauptquartier in Brüssel, die Kommandoeinrichtungen des Bündnisses sowie die Angestellten bezahlt. Das Volumen lag um die 2,5 Milliarden Euro pro Jahr. Nun soll mehr aus NATO-Töpfen finanziert werden: militärische Infrastruktur bei der Hochrüstung der Ostflanke, gemeinsame Programme für den Cyberkrieg, mehr Manöver sind vorgesehen, neues Geld für die Kooperation mit Drittstaaten. Dazu soll der NATO-Haushalt jedes Jahr aufgestockt werden, um zehn bis 25 Prozent je nach Etatposten. Bis 2030 werden so zusätzliche Mittel in Höhe von rund 25 Milliarden Euro kassiert.
Daneben haben 22 NATO-Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Aktion einen neuen NATO-Innovationsfonds gegründet, der eine Milliarde Euro umfassen und in der Steueroase Luxemburg eingerichtet werden soll. Mit dem Geld will der Militärpakt, wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Madrid sagte, »dazu beitragen, im Entstehen begriffene Technologien« zum Leben zu erwecken, »die die Macht haben, unsere Sicherheit in den kommenden Jahrzehnten zu transformieren, das Innovationsökosystem der Allianz zu stärken und die Sicherheit unserer eine Milliarde zählenden Bürger zu verbessern«. Der einen Milliarde Menschen, ganz nebenbei, die sich damit ihre Herrschaft über die sieben anderen Milliarden zu sichern sucht.
Konkret sollen die Mittel des Innovationsfonds unter anderem genutzt werden, um Startups zu fördern, die erfolgversprechende Projekte beispielsweise zu Künstlicher Intelligenz, zur Quantentechnologie, zu Drohnen und Hyperschallantrieben, aber auch in der Biotechnologie betreiben. Damit treibt die NATO die Militarisierung von Forschung und Entwicklung voran.
China im Visier
Zum ersten Mal nimmt das neue strategische Konzept der NATO ausdrücklich China ins Visier. Indem die Volksrepublik »ein breites Spektrum an politischen, wirtschaftlichen und militärischen Werkzeugen« nutze, um »ihren Einfluß in der Welt auszubauen«, schaffe sie »systemische Herausforderungen«, die »unsere Interessen, Sicherheit und Werte« beträfen, heißt es in dem Papier. Dies sei umso mehr der Fall, als China trotz des Kriegs in der Ukraine an seiner »strategischen Partnerschaft« mit Moskau festhalte. Was tun? Man wolle nicht nur an einer eigenen militärischen Präsenz in der Asien-Pazifik-Region festhalten – etwa Kriegsschiffe zum Einsatz für die »Freiheit der Seefahrt« entsenden –, sondern zudem »den Dialog und die Zusammenarbeit mit neuen und bestehenden Partnern im indopazifischen Raum stärken«, um damit »gemeinsame sicherheitspolitische Interessen zu verfolgen«, heißt es im neuen Konzept.
Entsprechend nahmen am Madrider NATO-Gipfel zum ersten Mal die Staats- und Regierungschefs Japans, Südkoreas, Australiens und Neuseelands teil – und zumindest einer von ihnen machte gleich Nägel mit Köpfen. Japans Ministerpräsident Fumio Kishida sprach mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg über das Kooperationsprogramm, das der Militärpakt seit 2014 mit Japan unterhält. Es soll jetzt weiter ausgebaut werden. Unter anderem planen beide Seiten, Beobachter zu ihren jeweiligen Manövern zu entsenden. Dies entspreche Tokios Bemühungen, die Staaten Europas enger in die Verhältnisse in Ostasien zu verwickeln – als Rückendeckung in den Auseinandersetzungen mit der China, kommentierte die japanische Tageszeitung »Asahi Shimbun«.
Ob das Konzept aufgeht, läßt sich freilich mit Blick auf die Anstrengungen, die sich die NATO in Europa bei der Militarisierung ihrer sogenannten Ostflanke vorgenommen hat, bezweifeln. Die deutsche Bundeswehr immerhin gibt sich Mühe: Nach dem Besuch der Fregatte »Bayern« in Yokohama bei Tokio im vergangenen Herbst werden im September deutsche »Eurofighter«, die dann bei einem Manöver in Australien sind, einen Abstecher zu gemeinsamen Übungen nach Japan unternehmen.
Darüber hinaus ist der Ausbau der NATO-Kooperation auch mit allen drei weiteren asiatisch-pazifischen Kooperationspartnern geplant. Man habe beschlossen, »in der Cyberverteidigung, bei neuen Technologien, bei maritimer Sicherheit, Klimawandel und dem Vorgehen gegen Desinformation« künftig eng zusammenzuarbeiten, teilte NATO-Generalsekretär Stoltenberg in Madrid mit.