Ausland10. Oktober 2009

Moskau befürchtet eine Mogelpackung

Rußland hat den Stopp für USA-Raketenschild in Osteuropa begrüßt – und ist mißtrauisch

Die Obama-Regierung distanziert sich mit spektakulären Korrekturen von der Politik ihrer Vorgängerin. Der USA-Präsident hat eine atomwaffenfreie Welt zum Ziel seiner Politik deklariert, den UNO-Sicherheitsrat darauf eingeschworen und die Errichtung eines Raketenschirms in Osteuropa gestoppt. Rußlands Präsident Dmitri Medwedjew fand diese Entscheidung »mutig« und will seinerseits auf die Stationierung von Iskander-Raketen im Gebiet Kaliningrad verzichten. Trotzdem bleibt Mißtrauen bestehen.

Der russische Militärexperte Leonid Iwaschow befürchtet, daß das Pentagon den Ausfall des Raketenschildes in Osteuropa durch Kampfsatelliten oder Laserwaffen kompensieren wird. Zudem könnte man mit Laserwaffen ausgestattete Flugzeuge einsetzen. Bei einem Test im August haben der Flugzeugbauer Boeing und die US-Luftwaffe vom Transportflugzeug Lockheed C-130 Hercules aus mit einem chemischen Laser erfolgreich ein Bodenziel vernichtet. Das Flugzeug war vom Luftwaffenstützpunkt Kirtland im Bundesstaat New Mexico gestartet und feuerte auf ein Auto auf dem Raketentestgelände White Sands Missile.

Das 3,5 Milliarden US-Dollar teure System ist dafür konzipiert, ballistische Raketen schon in der Startphase zu vernichten. Es soll Teil eines globalen Raketenschildes werden, zu dem auch Systeme auf dem Erdboden und auf See gehören. Rußland habe bereits viel früher als die USA begonnen, Laserwaffen zu entwickeln und zu testen, hält Moskau dagegen. Bereits 1972 sei der erste russische Kampflaser erprobt worden und schon damals in der Lage gewesen, Luftziele zu vernichten. Seitdem seien die Potenzen Rußlands in diesem Bereich deutlich gestiegen. Also doch eine weitere Runde des Wettrüstens?

Der jetzige Stationierungsverzicht bedeutet keineswegs, daß das Projekt Raketenabwehr völlig vom Tisch ist, sondern nur, daß andere Varianten geprüft werden. Barack Obama selbst hat darauf verwiesen: »Unsere neue Raketenabwehr in Europa wird für einen stärkeren, intelligenteren und schnelleren Schutz der amerikanischen Streitkräfte und ihrer Verbündeten sorgen.« Kritiker meinen, diese Formulierung komme den Tatsachen vermutlich näher als die Schlagzeile des »Wall Street Journal«, der Schutzschild sei auf Eis gelegt worden.

Das alternative System soll in mehreren Phasen verwirklicht werden. Bis 2011 will das Pentagon mit SM-3-Abfangraketen und Aegis-Lenkwaffensystemen ausgerüstete Kriegsschiffe wahrscheinlich im Persischen Golf und im Arabischen Meer, möglicherweise aber auch im Mittelmeer und in der Nordsee kreuzen lassen. Zur Abwehr von Mittel- und Kurzstreckenraketen sollen außerdem mobile Radarsysteme und bodengestützte Anti-Raketen-Raketen THAAD sowie Patriot-PAC-3-Anlagen dienen. Anschließend sollen in der zweiten Phase, etwa im Jahre 2015, derartige Raketen auch auf dem Territorium befreundeter Staaten stationiert werden, um Kurz- und Mittelstreckenwaffen abzuwehren. Bis 2018 wird eine neue, größere und wirksamere Rakete entwickelt und getestet. Sie soll bis 2020 stationiert werden, um dann auch auf die USA und Europa zielende Langstreckenraketen wirksam zu bekämpfen.

Die alternativen Stationierungspläne hält Iwaschow für einen antirussischen Trick. Ihm zufolge sind die auf Schiffen installierten Aegis-Waffensysteme gegen russische Atomraketen gerichtet und könnten den meisten russischen Raketen, die vom Festland und von U-Booten im Nordpolarmeer aus abgefeuert würden, die Flugbahn absperren, meint der Experte. »Wo ist die Garantie, daß diese mobilen Dinger, sei es ein Boot, ein Kreuzer oder ein Kampfschiff, nicht in unser Nordmeer segeln?«, fragt auch Rußlands Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogosin.

Die Ärzteorganisation gegen den Atomkrieg IPPNW begrüßt zwar den Verzicht auf das Raketenschildprojekt in Polen und Tschechien, weist aber auf eine andere gefährliche Entwicklung hin: Auf der jährlichen Raketenabwehr-Konferenz der US-Armee in Huntsville habe der Vizepräsident des Rüstungskonzerns Boeing Greg Hyslop erklärt, seine Gesellschaft entwickle eine Abfangrakete, die bei Bedarf mit von Boeing gebauten C-17-Transportflugzeugen schnell zu NATO-Basen in Europa geflogen werden könnte. Als möglicher Stützpunkt für die mobilen Raketenabwehrsysteme wird auch Ramstein in Deutschland genannt.

Die von der Weiterverbreitung von Atomwaffen und Raketentechnik ausgehenden Gefahren zu ignorieren, wäre wahrscheinlich ziemlich blauäugig. Der UNO-Sicherheitsrat hat in seiner jüngsten Abrüstungsresolution bekräftigt, daß dauerhafte Sicherheit nur in einer atomwaffenfreien Welt zu erreichen sei. Auf dem Weg dahin aber kann eine Raketenabwehr durchaus einen zeitweiligen Schutz bieten. Allerdings sollten solche Abwehrschirme kooperativ und nicht konfrontativ errichtet werden.

Rußlands Staatschef Dmitri Medwedjew fordert deshalb einen weltweiten Raketenschutzschild. USA-Präsident Obama hat Moskau dafür ausdrücklich Zusammenarbeit angeboten und auch von Seiten der NATO kommen Kooperationssignale. Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen will Rußland für die Mitarbeit an einem weit gespannten Abwehrschirm gegen Raketen aus dem Iran oder Nordkorea gewinnen. Skeptiker befürchten den Versuch, Rußland den westlichen, insbesondere den US-amerikanischen Interessen dienstbar zu machen.

Es gibt auch eine optimistischere Interpretation: Das könnte der Beginn einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zur Lösung globaler Sicherheitsprobleme sein.

Wolfgang Kötter