Ausland15. April 2023

Proteste und Streiks in Frankreich gehen weiter

Gewerkschaften haben keine Erwartungen an ein Gespräch mit dem Präsidenten der Republik

von Ralf Klingsieck, Paris

Der zwölfte Streik- und Aktionstag gegen die Rentenreform am Donnerstag war ganz von der Erwartung der für Freitag angekündigten Entscheidung des Verfassungsrates über das Gesetz über die »Rentenreform« bestimmt. Der »Rat der Weisen« war von den Gewerkschaften angerufen worden, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Gesetzes und seines Zustandekommens haben. Gleichzeitig soll der Verfassungsrat über den von mehr als 250 linken Parlamentariern eingebrachten Antrag auf Durchführung eines Referendums über die Reform entscheiden.

Damit verbinden die Initiatoren die Hoffnung, daß die mit fragwürdigen Methoden durchs Parlament gepreßte »Rentenreform« noch nachträglich durch das direkte Votum der Mehrheit der Franzosen zu Fall gebracht werden kann.

Als die Demonstration in Paris am Louvre vorbeizog, scherten mehrere Dutzend Teilnehmer aus und zogen zum nahen Palais Royal, in dessen Seitenflügel sich der Sitz des Verfassungsrats befindet. Dort forderten sie in Sprechchören eine Annullierung des Gesetzes. Dieser Abstecher blieb erwartungsgemäß friedlich, doch »vorsichtshalber« hatte eine Hundertschaft der Polizei rund um das Gebäude Stellung bezogen und schirmt es bis zum Wochenende ab.

Eine andere Gruppe von Demonstranten begab sich – für die Polizei völlig überraschend – zum Sitz des Luxusartikelherstellers LVMH, der Jahr für Jahr Milliardengewinne verbucht. Die Teilnehmer besetzten friedlich die Eingangshalle und forderten in Sprechchören eine gerechte Verteilung der erarbeiteten Reichtümer, bevor sie von der herbeigeeilten Polizei wieder aus dem Gebäude gedrängt wurden.

An den landesweit mehr als 250 Demonstrationen nahmen nach Angaben der Gewerkschaften mindestens 1,5 Millionen Menschen teil, während es beim elften Aktionstag vor einer Woche noch zwei Millionen waren. Die höchste Teilnahme im Verhältnis zur Bevölkerung gab es in großen Teilen von Nord- und Nordostfrankreich sowie im Süden in und um die Städte Nizza, Toulon, Rodez und Foix.

Auch wenn die Zahl der Demonstranten rückläufig ist, weil die Lohneinbußen für viele Menschen immer schwerer zu verkraften sind, so ist doch die Mobilisierung weiterhin bemerkenswert hoch. »Ich gehe jetzt lieber einmal pro Woche einen Tag demonstrieren und büße dafür Lohn ein, als daß ich zwei Jahre meines Lebens verliere«, sagt die 59-jährige Arbeiterin Marie N. und meint damit die durch die Reform vorgesehene Anhebung des Renteneinstiegsalters von 62 auf 64 Jahre.

Viele Franzosen hoffen, daß die Demonstrationen nicht umsonst sind und daß sie die Regierung beeindrucken und zum Einlenken veranlassen. »Wenn wir nicht diese Hoffnung hätten, wären wir nicht hier«, sagt der Busfahrer Jean F. »All unsere Proteste können doch nicht umsonst sein.« Er erinnert sich an den Herbst 1995, als die Regierung von Premier Alain Juppé nach dreiwöchigen Streiks und Demonstrationen ihre Pläne für eine »Rentenreform« zurückgezogen hat. »Diese Erinnerung macht Mut«, sagte er

Daß Präsident Emmanuel Macron die Vorsitzenden der großen Gewerkschaften für kommende Woche zu einem Gespräch ins Elysée eingeladen hat, wird von diesen skeptisch aufgenommen. »Natürlich gehen wir hin, schließlich fordern wir seit Wochen ein solches Treffen und er ist dem ausgewichen«, sagte die neue Generalsekretärin der CGT, Sophie Binet, am Rande der Pariser Demonstration. »Aber wir lassen uns nicht die Tagesordnung vorschreiben. Für uns geht es zuerst und vor allem darum, daß das Gesetz zurückgezogen wird. Über alles weitere läßt sich dann reden.«

Der Vorsitzende der Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, ergänzt: »Die Taktik von Macron, die Gewerkschaften aufzufordern, ihre Vorstellungen darzulegen, um sich dann doch darüber hinwegzusetzen und stur durchzuziehen, was im Voraus geplant war, das funktioniert nicht mehr, denn das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Wir werden nicht eher ruhen, bis es in diesem Land einen echten Dialog und echte Verhandlungen unter den Sozialpartnern und mit der Regierung gibt. Dazu gehört, zuzuhören, gegebenenfalls einzulenken und Kompromisse zu machen.«

Die Streiks konzentrierten sich am Donnerstag wieder auf die Energiewirtschaft, aber auch das Verkehrswesen, die Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. In anderen Bereichen, beispielsweise in den Raffinerien oder den Seehäfen gibt es Streiks, die von Tag zu Tag fortgesetzt werden. Die Pariser Müllmänner, die vor Tagen ihren Streik nach dreiwöchiger Dauer ausgesetzt hatten, haben ihn am Donnerstag wieder aufgenommen – zunächst für 48 Stunden. Vielerorts gab es an Landstraßen und auf Autobahnen »Schneckentempo«-Aktionen, bei denen Flugblätter verteilt und Spenden für die Familien der Streikenden gesammelt wurden.