Kein Licht am Ende des Tunnels
Der mörderische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern
Die derzeitigen furchtbaren Geschehnisse in Gaza, in Israel, im Westjordanland werfen allerlei Fragen auf, die weit über die Gewaltanwendung und ihre möglichen Ziele hinausgehen. Sie offenbaren viel über den Zustand eines wichtigen Teils der politischen Welt. Für den weitaus größten Teil der Welt allerdings sind diese Ereignisse bestenfalls von zweitrangiger Bedeutung.
Der Europäischen Union scheinen nicht nur die Hände gebunden, sondern auch das Herz und der Geist. Sie wirkt wie erstarrt: Hilflosigkeit, gepaart mit Einfallslosigkeit. Nirgendwo manifestiert sich die politische Schwäche der EU drastischer als im Nahen Osten. Sie sieht sich auf eine Rolle als Geldgeber reduziert – eher verachtet als geachtet.
Die einzigen Regierungschefs von EU-Staaten, die etwas Eigenständigkeit und Mut bewiesen haben, sind der Spanier Sánchez und der Belgier De Croo, die nicht nur die Untaten vom 7. Oktober, sondern auch die Massaker an der Zivilbevölkerung von Gaza anprangern. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik sprach vor einigen Tagen von einem Gemetzel, das Israel in Gaza anrichte – zum Missfallen einiger Mitgliedstaaten.
Wenn der deutsche Kanzler wohlgemut erklärt, man könne Israel beim Vorgehen in Gaza vollkommen vertrauen, da es eine Demokratie und ein Rechtsstaat sei, so wirkt dies etwas blauäugig, denn man darf sich fragen, woran Demokratie und Rechtsstaat gemessen werden sollen – nur an Verfassungen, Institutionen, Respekt der Form oder auch an konkretem politischen Verhalten im Innern wie nach außen. Man mag natürlich verstehen, dass die Regierung Deutschlands aus historischen Gründen und im Zeichen anhaltender Bemühungen um moralische Wiedergutmachung so eindeutig Partei für Israel ergreift.
Insgesamt zeigt sich der Westen sehr einseitig: Man übernimmt einfach den Diskurs der israelischen Regierung, indem man im Namen des Rechts auf Selbstverteidigung das Vorgehen Israels zumindest indirekt rechtfertigt, auch wenn man angesichts der fürchterlichen Folgen für die Menschen in Gaza Israel etwas zur Zurückhaltung mahnen mag.
In dieser Haltung kommt auch eine ethnische, religiöse oder eben post-christliche Komponente zum Ausdruck: Die tausendjährige Angst in Europa vor dem Islam. Daher können auch ganz Rechte oder sogar rechtsextremistische europäische Parteien ungeniert mit in den Chor der Empörten über den 7. Oktober einstimmen. Bei diesen ganz Rechten scheint sich der einstige offene Anti-Judaismus exklusiv zu einem Anti-Islamismus hin verlagert zu haben, dies in einem Europa, das sich im Übrigen Tag für Tag weiter nach rechts bewegt.
Lippenbekenntnisse und schlechter Willen
Während die ohnehin armseligen Lebensgrundlagen der Palästinenser in Gaza jetzt schon weitgehend zerstört sind, werden auch die palästinensischen Bewohner des Westjordanlands von den israelischen Siedlern, oft mit Hilfe der Armee, weiter abgeschnürt. »Die Palästinenser sollen verschwinden, wohin auch immer« heißt es in rechtsradikalen politischen Kreisen in Israel, Kreise die nicht nur das ganze Westjordanland, sondern auch den Gazastreifen für Israel einfordern. Einige von ihnen geben sogar unumwunden zu, dass die Massaker vom 7. Oktober ihnen zupass kämen, um endlich »klare Verhältnisse« schaffen zu können.
Die Führung der USA möchte sich gerne als »honest broker«, als »ehrlicher Makler« darstellen, doch vermag sie nicht über ihren eigenen Schatten zu springen. Sie sieht sich verpflichtet, Israel auf Gedeih und Verderb zu verteidigen. Vor wenigen Tagen hat zwar die USA-Regierung, auf der Grundlage eines Zwei-Staaten-Modells, eine gemeinsame palästinensische Behörde für Gaza und Westjordanland vorgeschlagen. Doch dies will die israelische Regierung auf keinen Fall akzeptieren, wie es Netanjahu gleich deutlich gemacht hat.
Die linksliberale israelische Zeitung »Haaretz« schreibt, dass Netanjahu die Hamas als Schreckgespenst braucht, um zu beweisen, dass Israel der Palästinensischen Autonomiebehörde die politische und administrative Kontrolle nicht übergeben kann.
Im Allgemeinen hören die führenden Politiker der Israelis zwar hin, wenn die USA-Regierung ihnen etwas empfiehlt, sie hören allerdings nicht auf sie. Die israelische Politik hat einen weitgehend autistischen Charakter. Sie schert sich so gut wie gar nicht um die Weltmeinung oder die Resolutionen der UNO.
Der Zynismus vieler arabischer Länder wie etwa der autokratischen Staaten Saudi-Arabien, Ägypten, Vereinigte Emirate, Katar, Bahrain: Die Palästinenser sind der Spielball dieser regionalen Mächte, die das Geschehen beobachten, vielleicht vollmundige Erklärungen abgeben, jedoch verhalten und zweideutig in ihrem Handeln sind.
Zwei unglückliche Völker
Die Palästinenser sind ein unglückseliges, ein geschundenes Volk, das am Rande der Geschichte vegetiert, eine Art Überbleibsel aus alten kolonialistischen Zeiten. Ein Volk, wenn man sie denn überhaupt Volk nennen mag, das nicht zur Ruhe kommen kann, so wie vor kurzem die Juden ein geschundenes Volk waren – überall vertrieben, marginalisiert, ostrazisiert, ghettoisiert, massakriert und bestenfalls geduldet.
Das jahrzehntelange Ringen, Zerren und Würgen mit den Palästinensern im von Israel teilweise kolonisierten Westjordanland wie auch im seit geraumer Zeit hermetisch abgeriegelten Gaza hat zweifelsohne auch schlimme Spuren in der israelischen Gesellschaft hinterlassen, zu einer Verhärtung und Verknöcherung geführt, einer Aushöhlung der politischen Kultur, einer psychosozialen Beschädigung des Gemeinwesens.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der meistens schwelt, manchmal lodert hat jetzt eine verheerende Dimension angenommen. Der derzeitige Krieg, wenn man bei einer solch ungeheuerlichen Asymmetrie der militärischen Mittel überhaupt von Krieg und nicht eher von Strafexpedition sprechen soll, wird die Gräben weiter vertiefen, die Beziehungen weiter vergiften, ein zivilisiertes, wenn nicht Miteinander, so doch Nebeneinander in weitere Ferne rücken.
Keine Aussicht auf eine Lösung
Das Albtraumhafte, Apokalyptische der Ereignisse der vergangenen Wochen. Der Schrecken der Welt in einer Nussschale. Die allgemeine Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der palästinensischen Menschen, die Risse, die tiefer, die Verzweiflung genau wie die Wut und der Hass, die größer geworden sind. Wie soll in Gaza auf den Leichen Tausender getöteter Kinder, auf den Massengräbern, eine normale Gesellschaft aufgebaut werden?
Wer die Entwicklung der israelisch-palästinensischen Frage mit unvoreingenommenen Augen seit einem Dreivierteljahrhundert verfolgt, kommt nicht umhin, eine pessimistische Prognose hinsichtlich der Chancen einer alle Seiten einigermaßen zufriedenstellenden Überwindung des geo-ethno-religiösen Imbroglios zu stellen.
Es ist eine verzwickte, ja verzweifelte Lage. Es gibt keine irgendwie überzeugende, realisierbare Perspektive für ein nicht nur friedliches, sondern gleichberechtigtes Zusammenleben oder wenigstens Koexistieren von Israelis und Palästinensern. Allzu lange haben sich Politiker und Diplomaten der westlichen Welt in Illusionen gewiegt, Hoffnungen geweckt, mit Modellen, Optionen und Szenarien jongliert, während vor Ort die Lage der Palästinenser sich ständig verschlechterte.
Die Ohnmacht der Organisation der Vereinten Nationen, ihr händeringender Generalsekretär, der gesteht, in seiner gesamten Amtszeit kein solches Blutvergießen erlebt zu haben. Die lächerlichen späten Appelle nationaler wie internationaler Instanzen, wie etwa der des NATO-Generalsekretärs, für einen dauerhaften Waffenstillstand.
Man kann als ethisch denkender Mensch die Gräueltaten vom 7. Oktober nicht entschuldigen und schon gar nicht gutheißen, man kann aber wie António Guterres versuchen, zu erklären, wie es dazu kommen konnte, auf die unzumutbaren Lebensumstände der Palästinenser, ihre permanente Erniedrigung, den aufgestauten Hass hinweisen.
»Die Zerstörung« der Hamas als oberstes Kriegsziel Israels, auch wenn sie irgendwie halbwegs gelingen könnte, würde die palästinensische Frage keineswegs einer dauerhaften Lösung näherbringen, würde keines der tiefgreifenden Probleme lösen.
Es kann keine militärische Lösung des Konflikts geben. Aus den Ruinen und Gräbern von Gaza kann keine friedliche Ordnung erwachsen – dies dürfte oder jedenfalls müsste auch jedem einigermaßen rationalen und luziden israelischen Bürger bewusst sein.
* (Der Autor leitete im Rahmen des von ihm geführten Instituts für Europäische und Internationale Studien in den Jahren 1998 bis 2001 mit hochrangigen politischen und militärischen Verantwortlichen sowie angesehenen akademischen Experten aus Israel, Jordanien und Palästina ein vom Außenministerium finanziell unterstütztes Projekt, das allerdings nach einer Reihe von nicht-öffentlichen Tagungen im Schengener Schloss trotz vielversprechender Ideen und Vorschläge keine konkreten politischen Auswirkungen zeitigte.)