Ausland13. Juli 2022

Von Syrien bis zur Ukraine (Teil 2)

Dieselben Regeln der Kriegspropaganda

von Karin Leukefeld

Aleppo – Die Belagerung

Es folgten vier schreckliche Jahre (2012 -2016) für die Bewohner von Aleppo. Die Front verlief durch die Altstadt und um die Stadt herum. West-Aleppo – wohin viele Menschen aus dem Osten der Stadt und dem Umland geflohen waren – war teilweise komplett von den bewaffneten Gruppen eingeschlossen. An deren Spitze stand die Nusra Front (Al Qaida). Allein im Sommer 2015 blockierten bewaffnete Gruppen nach Angaben von UNICEF mehr als 40 Mal die Wasserversorgung für Aleppo Stadt, wo damals rund 1,5 Millionen Menschen lebten. Die Wasseraufbereitungsanlage Al Khafseh am Euphrat wurde von Kämpfern des Islamischen Staates besetzt und geschlossen, wodurch 2 Millionen Menschen in Aleppo und Umland ohne Wasserversorgung waren. Ein Luftangriff auf Al Khafseh – für den Syrien die USA-Streitkräfte, und die Opposition russische Kampfjets verantwortlich machten – richtete ebenfalls Zerstörung an.

Die Belagerung endete erst im Juli 2016, als die syrische Armee mit Unterstützung des Iran, der Hisbollah und der russischen Luftstreitkräfte die letzte Versorgungslinie für die Goztteskrieger in Aleppo unterbrach. Es folgte eine massive Angriffswelle der regierungsfeindlichen »Armee der Eroberung«, die von der Nusra Front geführt von Idlib herkommend einen Sturm auf Ramousseh, im Süden von Aleppo startete und dabei Selbstmordkommandos mit sprengstoffbeladenen Panzerwagen gegen Stellungen der syrischen Armee einsetzte. Doch der Angriff scheiterte, die Zahl der Opfer auf beiden Seiten war hoch.

Im Dezember 2016 war die Aleppo wieder unter syrischer Kontrolle. Die bewaffneten Kämpfer und »Oppositionellen« wurden unter internationaler Kontrolle nach Idlib evakuiert. Unter ihnen waren mindestens 14 ausländische Militärs und Geheimdienstoffiziere, wie ein syrischer Parlamentsabgeordneter mitteilte. Sie kamen aus der Türkei (1), USA (1), Israel (1), Katar (1), Saudi-Arabien (8), Jordanien (1) und Marokko (1).

Andere Geheimdienstquellen sprechen von weit mehr ausländischen Offizieren, die von syrischen Spezialkräften identifiziert worden seien: 22 US-Amerikaner, 16 Briten, 21 Franzosen, 7 Israelis, 62 Türken.

Im UNO-Sicherheitsrat wurde hinter verschlossenen Türen heftig darüber verhandelt, wie mit diesen ausländischen Militärs – darunter Bürger der drei westlichen Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates USA, Britannien und Frankreich – umgegangen werden sollte. Sie wurden schließlich im Rahmen der großen Evakuierung von 25.000 bewaffneten Kämpfern und deren Angehörigen unbehelligt in Bussen abtransportiert.

Nach Einschätzung von US-amerikanischen Geheimdienstveteranen (»Veterans Today«) sei der Abzug von mehr als 100 ausländischen Militärs und Geheimdienstoffizieren Teil des Waffenstillstands- und Evakuierungsplans gewesen. Rußland und Syrien hätten weitere Kämpfe, Tote und Zerstörungen verhindern wollen und waren vor allem daran interessiert, die bewaffneten Regierungsgegner aus Aleppo zu entfernen. Rußland habe auf einen sofortigen umfassenden Waffenstillstand gedrängt und wollte – in Absprache mit der Türkei und dem Iran – die politischen Gespräche aller Parteien in Astana beginnen. Die westlichen Länder wiederum wollten »ihre Leute« in Sicherheit bringen und stimmten dem Abzug der Kampfverbände nur zu, wenn auch »ihre Leute« abziehen könnten. Alle Seiten schwiegen über den Deal.

Aleppo und der Krieg in der Ukraine

Warum also ziehen Politik und Medien im Westen eine Parallele zwischen dem Syrienkrieg und der Ukraine? Was hat Aleppo mit Kiew oder Mariupol zu tun?

Das Sprichwort »Haltet den Dieb« eignet sich vielleicht am ehesten als Erklärung. Wie ein ertappter Dieb versucht der Westen mit großem Geschrei auf allen Kanälen und rund um die Uhr, Rußland zu beschuldigen, um von der eigenen Verantwortung für die Zerstörung von Aleppo abzulenken.

Die Botschaft lautet, daß die russische Armee blutrünstig, brutal und menschenverachtend vorgehe und mit ihrer »barbarischen Kriegsführung« – wie in Aleppo – keinen Stein auf dem anderen lasse. Doch wie beschrieben war das Geschehen in Aleppo anders. Die lauten Anschuldigungen sollen davon ablenken.

Die große Zerstörung von Aleppo fand zwischen 2012 und 2016 statt. Es war ein erbitterter Straßenkampf. Die Akteure waren auf der einen Seite die von den »Freunden Syriens« ausgerüsteten Kampfverbände, die »das syrische Regime stürzen« sollten und in westlichen Meiden als »Opposition« dargestellt wurden. Sie hatten den Krieg nach Aleppo gebracht. Die Akteure auf der anderen Seite waren die syrische Armee, die versuchte mehr als 1,5 Millionen Menschen zu schützen und die Stadt zu verteidigen. Unterstützt wurde die syrische Armee in dieser Zeit von der libanesischen Hisbollah und von iranischen Milizen und Beratern.

Rußland war militärisch in der Zeit gar nicht in Aleppo aktiv. Die einzige militärische Aktivität Rußlands geschah sehr effizient, professionell und abseits von Schlagzeilen in den Jahren 2013 und 2014, als die russische Militärpolizei die Chemiewaffenbestände Syriens mitten im Krieg sicherte und nach Latakia transportierte. Dort wurden sie von westlichen Spezialschiffen, auch aus den USA, an Bord genommen und vernichtet.

Erst Ende September 2015 griff Rußland auf Bitten Syriens und auf Bitten des iranischen Generals Qasim Sulimani ein. Ziel war, die bewaffneten Kampfverbände von Dschihadisten und Al Qaida, die von der Türkei zu Tausenden nach Syrien strömten und sich auf den Sturm auf Aleppo vorbereiteten, zurückschlagen zu können. Rußland bildete eine militärische Koordinationsstelle mit Syrien, der Hisbollah, dem Iran und dem Irak. Den USA bot Rußland an, zur Vermeidung direkter Konfrontation eine »militärische Hotline« einzurichten, um sich jeweils bei Luftangriffen zu informieren. Die USA stimmten zu.

Rußlands Luftstreitkräfte und Langstreckenraketen zerstörten in wenigen Wochen die Versorgungswege der Dschihadisten, Waffenlager, Routen und Konvois, über die das geplünderte syrische Öl von den Ölfeldern im Osten des Landes (Hasakeh und Deir Ez-Zor) nach Idlib und in die Türkei abtransportiert wurde.

Der ehemalige US-Marine (Vietnamkrieg) und spätere Senator Colonel Richard Black (78) war in Aleppo und hat die Folgen des Straßenkampfes dort und die enorme Zerstörung gesehen. Der Straßenkampf in Aleppo sei von 2012 bis 2016 »eine ziemlich syrische Angelegenheit« gewesen, so Black. Sehr brutal, mit großen Verlusten. »Sie kämpften vier Jahre lang, bevor Rußland überhaupt in den Kampf eingriff.« Dabei sei Rußland »extrem zurückhaltend« gewesen, »sich in den Kampf in Syrien einzumischen«, so Black in einem Interview im April 2022.

Rußland habe nur sehr kleine Einheiten von Soldaten entsandt, wenig Artillerie, einige Sondereinsatzkräfte und Berater. »Andererseits waren sie eine bedeutende und sehr effektive Macht in der Luft, die die syrischen Luftstreitkräfte ergänzt« habe. Das sei jedoch nur im letzten Jahr des Krieges gewesen, als »die Syrer die terroristischen Kräfte schon ziemlich geschwächt« hätten. Die russische Unterstützung habe geholfen »das Gleichgewicht zu wahren«, so Black. Aleppo sei der »große Sieg« im Syrienkrieg gewesen. »Die Russen für die massive Zerstörung in Aleppo verantwortlich zu machen ist unsinnig: weil sie gar nicht da waren«, so Black. »Sie waren nicht da, als es passierte.«

Ein Fazit

Wer Aleppo kontrolliert, kontrolliert Syrien, heißt es. Der Krieg wurde nach Aleppo gebracht, weil man wollte Syrien kontrollieren wollte. Syrien hatte keine Wahl, als sich zu verteidigen. Vier Jahre lang wurde in und um Aleppo gekämpft, dann hatten die »Freunde Syriens« und ihre Kämpfer verloren. Der komplette Plan von Infiltration und Täuschung lag im Dezember 2016 offen auf dem Tisch.

Die russische Diplomatin Maria Chodynskaja-Golenischtschewa, Professorin und Leiterin des Lehrstuhls für die Analyse internationaler Probleme am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) beschreibt in ihrem Buch »Aleppo – Krieg und Diplomatie« den diplomatischen Kampf, der auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formaten um die Stadt geführt wurde.

Als Vertreterin Rußlands und Co-Vorsitzende nahm sie an der Seite des damaligen UNO-Sonderbeauftragten Staffan de Mistura an allen Treffen teil. Sie berichtet über die Gespräche, die zu der Vereinbarung zwischen Rußland und der Türkei führten. Sie beschreibt, warum die russisch-US-amerikanischen Beratungen immer wieder scheiterten. Sie hebt die Interessen der so genannten »Kleinen Gruppe« interessierter Staaten hervor – Rußland, USA, Iran, Katar, Saudi Arabien und Türkei – über die die Öffentlichkeit im Westen kaum etwas erfuhr. Und sie schreibt darüber, wie seitens der UNO in den letzten Wochen und Monaten des Jahres 2016 immer wieder Raum für die bewaffneten Gruppen in Ost-Aleppo und ihre Interessen geschaffen wurde, während die syrische Armee, Rußland und ihre Verbündeten blockiert wurden im Kampf gegen die – nicht nur aus syrischer Sicht – terroristischen Gruppen. Der immer wiederkehrende Vorwand war die Wahrung von Menschenrechten und die humanitäre Versorgung.

Die Befreiung von Aleppo, so ihr Fazit, sei ein Beispiel dafür, wie sich internationale und regionale Diplomatie und Außenpolitik im Zuge der Entstehung einer neuen, multipolaren Weltordnung verändere. Neue Bündnisse und Interaktionen könnten entstehen.

Rußland brachte den Iran und die Türkei mit Syrien und den bewaffneten Gruppen im »Astana-Format« an einen Tisch. Es wurden Waffenstillstandszonen vereinbart, die regierungsfeindlichen Kämpfer mußten die Waffen niederlegen, Syrien erklärte im Gegenzug eine Amnestie, die Voraussetzungen für einen innersyrischen Versöhnungsprozeß wurden geschaffen.

Aleppo konnte gerettet werden, im größten Teil Syriens schweigen heute die Waffen. Den etwa 2 Millionen Menschen in der Stadt und im Umland blieb die Zerstörung. Kein Strom, wenig Wasser, die Jugend ist geflohen, Fachkräfte sind abgewandert. Der Wirtschaftskrieg der EU und den USA gegen Syrien und seine Verbündeten, die Sanktionen und das US-amerikanische »Caesar«-Gesetz verhindern bis heute den Wiederaufbau im ganzen Land und kurbeln Inflation und Wirtschaftskrise an.

Der westliche Propagandakrieg, der den Konflikt um Aleppo und den Syrienkrieg von Anfang an begleitete, geht weiter. In Syrien konzentriert er sich auf die Provinz Idlib und humanitäre Hilfslieferungen, die politisch der Nusra Front – heute Hayat Tahrir al Scham – nutzen, die das Gebiet kontrolliert.

Heute ist die Propaganda eingebettet in hybride Kriegsführung und zielt auf die gegnerischen Staaten ebenso, wie auf die Köpfe der eigenen Bevölkerung. Im Rahmen des Ukrainekonflikts ist Rußland das aktuelle Ziel des von den USA geführten Blocks von NATO und EU. Das nächste Ziel wurde schon ins Visier genommen: China.

 

Der 1. Teil des Artikels erschien in unserer Dienstag-Ausgabe auf Seite 6