Leitartikel

Unser Leitartikel : Netzwerk der Blockwarte

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In diesem Jahr wird die soziale Internetplattform Facebook zehn Jahre alt und aus der einstigen Idee eines Online-Studentenjahrbuches an US-amerikanischen Hochschulen ist ein den Globus umspannendes Netzwerk geworden. In diesem Jahr hat die Plattform weit über eine Milliarde Nutzer weltweit, und während auf der einen Seite über das offene Geheimnis diskutiert wird, daß die Geheimdienste ebensoviel Freude an den Beiträgen der Nutzer haben, wie deren Freunde und Verwandte, zeigt sich auf der anderen Seite, wie sich die totale Vernetzung selbständig machen kann. Einerseits gibt es eine Fülle von Zusatzinformationen, welche es den bürgerlichen Medien zunehmend schwerer machen, tendenziöse Berichterstattung als Fakten zu verkaufen, andererseits gibt es auch in der Fülle der Online-Beiträge viele Enten, denen man schnell aufgesessen ist.

Onlineplattformen sind nicht ausschließlich ein Instrument der Aufklärung und der fortschrittlichen Vernetzung. Wir erinnern uns an die beschämenden Demonstrationen vor Asylbewerberunterkünften wie in Petingen, zu denen auf Facebook in einschlägigen Gruppen diskutiert wurde, wie man diese Heime am besten anzünden könne oder an heißblütige Beiträge zur Sprachensituation im Land, bei welcher der ein oder andere die Vorteile der relativen Anonymität im Netz dazu nutzt, die Grenzen einer sachlichen Debatte absichtlich zu sprengen.

Auch immer mehr Behörden finden nun den Weg in diese Netzwerke. Die Polizei etwa ist seit einer Weile auf Facebook und Twitter mit einer eigenen Seite präsent, um die Nähe zum Bürger zu suchen. Ob dieser Schritt gut war, läßt sich spätestens dann jedesmal wieder bezweifeln, wenn fleißige Couch-Hilfssheriffs allerlei Warnhinweise verbreiten. Dies ist ebenso fragwürdig wie inhaltlich riskant, was nicht zuletzt das Phantombild eines angeblichen Pädophilen beweist, von dem die Polizei bestreitet, es angefertigt zu haben. Cybermobbing und anderen Gefahren sind Tür und Tor geöffnet.

Aktuell sind die Internauten aufgrund der gemeldeten versuchten Kindesentführungen in heller Aufregung und posten Vorsichtshinweise und Beobachtungen, daß die Tasten glühen. Die Aufregung ist berechtigt, aber : Welche Meldungen echt und welche eine Fälschung sind, wird in der Eile des Weiterteilens schnell mal übersehen und die Volksseele kocht, was nicht selten in Diskussionen zu mehr Überwachung, restriktiveren Gesetzen, sowie der Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe gipfelt. Solche Reaktionen können von findigen Internetaktivisten durchaus gezielt herbeigesteuert werden. Sie versuchen, die Stimmung in ihrem Sinne oder im Sinne einer politischen Kraft zu beeinflussen, etwa, wenn, wie in Deutschland vor den Wahlen, ein angeblich offiziell angestrebtes Verbot des St.-Martin-Festes durch die deutsche Linkspartei die Runde macht, und es nun um die »Verteidigung des christlichen Abendlandes« geht. Auch gefälschte Berichte und Bilder aus Syrien oder der Ukraine machen die Runde.

Grundsätzlich sollten Fahndung und Überführung von mutmaßlichen Kriminellen Aufgabe der Polizei sein, weswegen es ratsam ist, derlei Berichte in sozialen Netzwerken nicht weiter zu teilen, um der Blockwartmentalität entgegenzuwirken. Nehmen wir die Folgen von digitaler Unbekümmertheit nicht auf die leichte Schulter. Ihre Auswirkungen erreichen durchaus das wahre Leben. Halten wir uns lieber an die unbestreitbar zahlreichen positiven Möglichkeiten der Vernetzung, aber lassen wir uns nicht davon blenden, daß sich die Welt vom Bildschirm aus verändern ließe.

Christoph Kühnemund